Vorweg: Natürlich leben noch Zeitzeugen von Le Mans 1965, aber alle, die damals – in Echtzeit, und nicht durch späte Recherche – in diese seltsame Episode eingeweiht waren, sind mausetot. (Meine lieben Kollegen Heinz Prüller und Helmut Zwickl sind natürlich noch quietschlebendig, waren damals auch in der Nähe, aber das spezielle Detail hat sich ihnen nicht offenbart, sie haben bis heute ihre Zweifel an der ganzen Geschichte.)

Es war ja auch nur eine Handvoll Leute, die halbwegs Bescheid wussten, so komisch liefen die Dinge. Inzwischen geriet es zu einer Sache der Ehre vor allem für amerikanische Race-Fans, die Wahrheit ans Licht zu bringen: Das Siegerteam auf Ferrari 250 LM bestand nicht nur aus Jochen Rindt und Masten Gregory. Da war ein dritter Mann, der um etwa drei Uhr früh aus dem Nebel aufgetaucht war und dann die nächsten dreißig oder so Jahre hinterm Nebel blieb.

Bereit für Erstaunliches

Beginnen wir mit Jochen Rindt. Von den Wissenden war er schon längst erkannt worden als jene Art von Vollgastier, dem man so ziemlich jede Type von Auto unter den Hintern schieben konnte – und es würde sich Erstaunliches ereignen. Für die breitere Öffentlichkeit, selbst in Österreich, hatte Rindt noch keinerlei Bedeutung.

Jochens Erbschaft aus der Gewürzmühle in Mainz, zuerst scheibchenweise, hatte den Erwerb eines Simca Monthléry (1961), danach einer Alfa Giulietta TI und eines Formel-Junior-Cooper (1963) ermöglicht. Der Rest der Kohle, ausbezahlt bei Großjährigkeit, ermöglichte den Ankauf eines Formel-2-Brabham in England. Die damaligen 4000 Pfund hören sich doch etwas harmloser an als die Umrechnung auf heutige Kaufkraft, wohl 110.000 Euro. Jochen heuerte einen englischen Mechaniker zur Pflege an.

Wie bei Hitchcock: Der Verdächtige taucht in einer einzigen Szene auf, ist aber vorher nd nachher verschwunden. Hier ist es Ed Hugus, der zweite Mann auf der linken Seite. Jochen Rindt ist in der Mitte.
foto: mcklein/alois rottensteiner

Der Auftritt im traditionellen Pfingstrennen 1964 von Crystal Palace, einer längst aufgelassenen Rennstrecke im Norden Londons, brachte ihn mit Größen wie Jim Clark, Graham Hill und Denny Hulme zusammen. Jochen gewann seinen Vorlauf, dann auch, absolut sensationell, das Finale im direkten Match mit Graham Hill.

Das machte ihn in England (und natürlich bei Race-Freaks wo auch immer) populär und brachte ihm einen Formel-1-Vertrag im Cooper-Team ein. Zuerst einmal kam es zu einer Durststrecke von elf technischen Ausfällen und acht sieglosen Platzierungen. Erst gut ein Jahr nach Crystal Palace ließ sich ein weiterer Markstein der Karriere einschlagen – eben Le Mans 1965. Dieser Sieg brachte so etwas wie Ordnung in Jochens Leben. Rennfahrer Rindt hatte nun auch für die deutschsprachige Öffentlichkeit einen gewissen Stellenwert.

Ein großer Jahrgang

1965 war ein großer Le-Mans-Jahrgang, weil er mitten in die Ford-versus-Ferrari-Legende fiel. Kurz gesagt: Henry Ford hatte die Firma Ferrari kaufen wollen, Enzo Ferrari hatte im letzten Moment abgelehnt, Henry Ford hatte die staatsmännischen Worte "Then we'll kick his ass" gesprochen und die große Fehde für den Schauplatz Le Mans ausgerufen. Höhepunkt der Eskalation war 1965 das Antreten von zwei Sieben-Liter-Ford (neben weiteren GT 40 und Cobras), was eine neue Qualität amerikanischen Overstatements nach Europa brachte.

Jochen Rindt war noch nicht ganz so weit, dass er für einen Topwerkswagen infrage gekommen wäre, aber immerhin war er ein heißer Tip für die besseren Privatrennställe, und von denen war NART eine der ersten Adressen. NART stand für North American Racing Team und war im Besitz einer Lichtgestalt namens Luigi Chinetti – ein extrem charismatischer und einflussreicher Partner für das Ferrari-Business in den USA. Ein NART-Ferrari war immerhin das Nächstbeste zu einem Werkswagen.

Charmanter Sauhaufen

Im Vergleich zu späteren soliden Zeiten war Le Mans noch ein charmanter Sauhaufen. Wenn ein Auto genannt war und seine Startnummer gekriegt hatte, reichte es, wenn man zwei Tage vor dem Rennen die endgültigen Fahrer bekanntgab. So konnte es kommen, dass Luigi Chinetti noch am Mittwoch einen Fahrer für Samstag suchte. Den würde er mit dem Amerikaner Masten Gregory zusammenspannen, einem sehr renommierten Langstreckenpiloten, der auch als Typ schwer okay war. Durch seine dicken Brillengläser war er sowieso unverwechselbar.

Rindt war durchaus schon im internationalen Netzwerk, Chinetti versuchte ihn zu erreichen (schwierig damals, Telegramme, Buschtrommel über Freunde), und angeblich saß Rindt schon im Auto vor dem Haus des Freundes in Wien, wollte zur Oma nach Graz fahren oder zum Wasserski an den Traunsee, da gehen die Legenden auseinander, da klappt es mit dem Telefon, Rindt erwischt noch die Air France am Donnerstag um elf, kann sich noch zum Training in Le Mans melden, findet Masten Gregory. Sie müssen noch eine Sitzeinlage basteln, um den Größenunterschied zwischen dem kurzen Gregory und dem nicht so kurzen Rindt auszugleichen.

Stark, aber nicht stark genug

Der Ferrari 250 LM war nie dafür gebaut worden, die größten Schlachten für Ferrari zu schlagen, zwar ein fantastischer Gran Turismo, aber nicht so extrem wie die legendären Prototypen P1 und P2. Der 3,3-l-Motor hatte 320 PS. Mittelmotoranordnung und Fahrwerk des 250 LM entsprachen immerhin dem letzten Stand des Rennwagenbaus. Später hat jemand herausgefunden, dass der Wettkurs eines 250 LM für Le Mans 1965 bei 1:25 lag. Die stärkeren Ferrari und gar die Overkill-Ford würden erst einmal ausfallen müssen.

Es war noch das alte, tödlich sorglose Le Mans, mit Start aus der Sprinthocke, ohne Sicherheitsgurten, und Gregory nahm schon mal eine Wasserflasche (natürlich aus Glas) ins Cockpit, klemmte sie zwischen die Beine und erfrischte sich auf der damals noch endlosen Hunaudières-Geraden – bei allerdings schon ausgewachsenen 285 km/h.

Ferraris 250 LM: Schnell, aber kein potentieller Siegertyp.
Foto: 24h-lemans.com

Gregory war ein bekannter, ganz schön schneller Pilot, einerseits routiniert, anderseits auch als gnadenloser Chaot bekannt. Heinz Prüller hat für uns festgehalten, dass Gregorys zweite Frau die ganzen 24 Stunden an der Box gesessen sei. Sie hieß Zeda und kam aus Armenien: "Zeda hat ein blasses, von pechschwarzem Haar umrahmtes Gesicht mit sehr lebhaften Augen. Selten sieht man sie ohne Pekinesen, einen Nachfahren der chinesischen Palasthündchen. Sie passt gut zu Masten."

Die Chancen für Rindt und Gregory, mit dem 250 LM zu einer vernünftigen Platzierung zu kommen, waren so gering, dass im Freundeskreis die Mutmaßung umging, Jochen, damals noch nicht sehr pflegsam, würde den Bock zuschanden fahren, kurz und heftig, und dann wäre die Sache erledigt.

Hopp oder dropp

So lief es gewiss nicht, aber als um Mitternacht (also nach einem Drittel der Strecke) der LM an dreizehnter Stelle lag, dürfte Rindt sehr wohl auf "hopp oder dropp" geschaltet haben, jedenfalls nahm er in seinen Nacht-Törns den Wagen ordentlich zur Brust und holte dramatisch auf.

Wenn Masten Gregory an der Reihe war, lief es nicht so toll, jedenfalls nicht in der Nacht. Die Grillfeuer der 300.000 Zuschauer entlang der Strecke hatten wie üblich zu einer Nebelsuppe geführt, die sich an Gregorys dicken Brillengläsern ärgerlicher auswirkte als sonst wo. Jedenfalls kam er früher als beabsichtigt an die Box, ohne Vorwarnung. Jochen war im Tiefschlaf, hinten im Transporter. Es muss etwa drei Uhr früh gewesen sein, noch vor dem Mittsommer-Sonnenaufgang um vier.

Warten am Nachmittag. Ein Klassiker der Jochen-Rindt-Ikonografie.
Foto: mcklein/alois rottensteiner

Teamchef Chinetti schickte seinen "Ersatzfahrer" los, und der fuhr den Rest des Törns. Das dürfte etwa eine Dreiviertelstunde gewesen sein, danach war Jochen wieder alarmiert und fit, setzte die Jagd fort. Ab Vormittag lag Startnummer 21 in Führung. Alle Fords und die meisten Ferraris waren mit Defekten ausgefallen, und den Rest hatten Rindt und Gregory durch ihre mehr als beherzte Gangart kassiert.

Als der LM durchs Ziel fuhr, fühlte sich natürlich auch der dritte Mann als Teil des Siegerteams und hockte sich in der Boxenstraße aufs Auto, wie es der Brauch ist. Dann ging er allerdings in dem Trubel verloren, und bei der Champagnerspritzerei bestand die Mannschaft nur noch aus Jochen Rindt und Masten Gregory.

Kein Hinweis, nur Schweigen

So stand es auch in allen Ergebnislisten. In keinem einzigen Zeitungsartikel gab es einen Hinweis auf den dritten Mann. Jochen Rindt erwähnte ihn zeitlebens mit keinem Wort, seine Frau Nina sagte später, sie habe den Namen nie gehört. Masten Gregory sprach nie davon.

Zentralfigur des Mysteriums war natürlich der Teambesitzer Luigi Chinetti. Er lebte danach noch fast vierzig Jahre und nannte auf Befragen durchaus den Namen des dritten Mannes: Ed Hugus. Es gab allerdings noch keinen Beschleuniger namens Internet, man suchte Adressen und schrieb Briefe, man traf einander an Rennstrecken, natürlich, aber gar so wichtig war die Sache ja auch nicht.

Immerhin: Wenn man Chinetti befragte, bekam man die Antwort: Ja, Hugus ist einen Törn gefahren, aber irgendwie hat es mit der Buchführung in Le Mans nicht geklappt. Er, Chinetti, habe mehrmals versucht, schon am Tag des Sieges und noch viel später, die Dinge korrekt protokollieren zu lassen, aber da sei bei den Veranstaltern kein Durchkommen gewesen.

In der schmalen Gasse zur Siegerehrung: Rindt, ein kantiges Bürscherl von 23 Jahren.
foto: mcklein/alois rottensteiner

Eine Pointe an der Sache ist, das Ed Hugus keineswegs ein Niemand war. Als (selfmade)wohlhabender amerikanischer Privatfahrer war er zuvor schon neunmal in Le Mans gestartet, war einmal sogar Siebenter im Gesamtklassement geworden. Das war mit einem Testa Rossa, den er dann um 6000 Dollar verkaufte. Aus diversen Blogs wissen wir, dass dieses Auto vor ein paar Jahren um 12,6 Millionen Dollar weiterverkauft wurde.

Hugus hatte nie einen Zirkus gemacht um seine Missachtung, war heimgeflogen und hatte die Erinnerung zu den Akten gelegt. Nur langsam holten ihn Anfragen von amerikanischen Racing-Historikern ein, die da irgendetwas läuten gehört, wohl auch durch Chinetti Bescheid gewusst hatten. Aber irgendwann waren alle tot: Jochen (1970), Masten Gregory (1985), Luigi Chinetti (1994) – da wurde das Internet gerade lebendig. Die Recherche der Race-Fans bekam neues Momentum, wohl auch wegen der Makellosigkeit von Hugus' Karriere.

Locker über den Dingen

Als Marine-Paratrooper war er 1945 über Corregidor abgesprungen, viel mehr kannst du nicht tun, um in Amerika ein Lifetime-Hero zu werden. Es stellte sich aber raus, dass Ed Hugus ein leiser Typ war, wie er seine Karriere machte, wie er Rennen fuhr, wie er darüber sprach. Jeder, der sich über Hugus zu Wort meldete, sprach über seine Unaufgeregtheit und darüber, wie locker er über den Dingen stand, die seine Person betrafen.

Als Ed Hugus auf Anfrage eines Fans handschriftlich antwortete, gab es praktisch keine Zweifel an der Schlüssigkeit der Darstellung: Hugus sei für einen Chinetti-Wagen gemeldet gewesen, der aber im Ferrari-Werk nicht fertig wurde, er sei dann als Reservefahrer für den Rindt/Gregory-Wagen nominiert gewesen, und als gegen Ende der Nacht der Erbsensuppennebel ("pea soup fog") an der Rennstrecke immer ärger geworden sei, habe ihn Chinetti aufgefordert, die letzte Stunde von Gregorys Törn zu fahren. Chinetti habe ihm später versichert, dass er die Funktionäre davon verständigt hätte, aber auch die Aufpasser in der Box hätten vielleicht eher mit einer Weinflasche zu tun gehabt.

Des Rätsels Lösung

Die Beweise scheinen mittlerweile gegriffen zu haben, immer mehr Rennsport-Statistiken führen Ed Hugus als Co-Sieger von Le Mans 1965. Ed Hugus starb 2006, und er dürfte bis zuletzt ein entspanntes Verhältnis zu seinem Le-Mans-Sieg gehabt haben.

Bleibt die Frage: Warum die ganze Geheimnistuerei in der Nacht, am Morgen, bei der Siegerehrung, in den Wochen und Monaten danach?

Die Sonne strahlt auf den Sieger des Jahres 1965 herab. Kein Wort mehr von "pea soup fog".
Foto: 24h-lemans.com

Da sind sich ausnahmsweise auch die österreichischen Experten einig. Es muss wohl so gewesen sein, dass Chinetti Zweifel gehabt haben muss, ob sein "Ersatzfahrer" wirklich konformgemäß gemeldet war oder ob vielleicht Disqualifikation gedroht hätte.

So genau wollten sie das wohl alle nicht wissen, und so durfte sich Hugus zwar gleich nach der Zieldurchfahrt auf "sein" Auto hocken, nicht aber zur offiziellen Siegerehrung schreiten. Hugus fand's sicher nicht toll, blieb aber locker, Chinetti ließ die Sache vorerst lieber unter der Tuchent, Masten Gregory und Jochen Rindt fanden das sicher auch recht praktisch.

Ein paar Jahre später war der Sieg natürlich zementiert, Chinetti wurde locker, vierzig Jahre danach antwortete Ed Hugus, und fünfzig Jahre nach Le Mans 1965 erfreuen wir uns an einer hübschen Nuance in der außergewöhnlichen Historie des Jochen Rindt. (Herbert Völker, Rondomobil, 20.6.2015)