Weltweit sind laut Schätzungen rund 60 Millionen Menschen, vor allem im Nahen Osten und in Afrika auf der Flucht vor Krieg, Gewalt und Elend. Papst Franziskus, selbst Enkelkind italienischer Einwanderer in Argentinien, forderte dieser Tage mehr Verständnis für die Nöte der Flüchtlinge. Er hat vor Ausländerfeindlichkeit und Zukunftsangst gewarnt: "Die Menschen dürfen nicht wie Waren behandelt werden ... und die Gläubigen sollen sich nicht in Gesellschaftssysteme flüchten, die Fremde ausschließen, anstatt diese aufzunehmen."

In einem Spiegel-Bericht über das Versagen der EU-Flüchtlingspolitik wird ein wütender Jean-Claude Juncker, der Präsident der EU-Kommission, zitiert: "Es reicht nicht, abends vor den Fernsehschirmen zu weinen, wenn Menschen im Mittelmeer ertrinken, und am nächsten Morgen im Rat eine Gedenkminute abzuhalten ... Alle, die den Populisten nachrennen, werden, ob sie es wollen oder nicht, selbst zu Populisten."

Obwohl die Flüchtlingskatastrophe alle Europäer betrifft, kann von solidarischer Flüchtlingspolitik nach wie vor keine Rede sein. Nicht nur der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán lehnt empört die Einführung verpflichtender Flüchtlingsquoten (gerechnet nach der Einwohnerzahl, der Wirtschaftskraft, der Zahl der bisher aufgenommenen Flüchtlinge und der Arbeitslosenquote) ab. Der von der rechtspopulistischen Regierung Ungarns angekündigte Bau eines 175 Kilometer langen und vier Meter hohen Zaunes an der Grenze zu Serbien wurde zum Beispiel von dem linkspopulistischen, sich formell zur Sozialdemokratie bekennenden slowakischen Regierungschef Robert Fico lautstark begrüßt. Auch bei dem klaren Gewinner der dänischen Parlamentswahl, der Folkeparti, mit ihrem Programm für Erschwernisse für Flüchtlinge und mit deutlicher Forderung an Zuwanderer, sich einzugliedern, gibt es starke sozialdemokratische Elemente. Der Wunsch nach Bewahrung des Sozialstaats für Eingesessene samt Forderung nach einer laizistischen Gesellschaft hat laut der FAZ auch viele linke Wähler zur Folkeparti gebracht. Auch überall sonst in den gemeinhin als tolerant und weltoffen geltenden nordischen Ländern waren die Rechtspopulisten überraschend erfolgreich.

Das Aufkommen rechts- wie linkspopulistischer Parteien in allen EU-Mitgliedsländern, die durch eine polemische Ablehnung des Integrationsprojektes im Allgemeinen und einer liberalen Zuwanderungspolitik im Besonderen miteinander verbunden sind, ist ein untrügliches Indiz für das Wiederaufleben nationaler Vorurteile, die man für längst verschwunden und vergessen gehalten hat. Die dramatische Schwächung der gemäßigten Mitte von Christ- und Sozialdemokraten (auch in Österreich!) ist zum Teil die Folge der Angst vor dem scheinbar unkontrollierbaren Zustrom von Flüchtlingen. Die Menschen in den Nettozahlerländern sind immer weniger bereit, Transfers in die Armutsregionen und Rettungsaktionen zu finanzieren. Auch die fehlende Solidarität in der globalen Flüchtlingskrise ist ein Beweis dafür, dass das Bestreben, Europa aus einem Eliteprojekt in ein Bürgerprojekt zu verwandeln, durch die Übermacht der zentrifugalen Kräfte gescheitert ist. (Paul Lendvai, 22.6.2015)