Dankbarkeit ist bekanntlich keine Kategorie in der Politik und erst recht nicht in den zwischenstaatlichen Beziehungen. Jacob Viner, der kanadische Ökonom, schrieb, dass Nachbarschaft keine Garantie für gutnachbarschaftliche Beziehungen sei. Das gilt heute auch für das Verhältnis zwischen Österreich und Ungarn.

Anfang des Jahres 1957 erlebte auch ich mit fast 200.000 anderen Ungarn, wie wir nach der Niederschlagung des Oktober-Aufstandes ohne Furcht und ohne Rücksicht auf Herkunft mit offenen Armen in einem Land aufgenommen wurden, das so kurz nach dem Abzug der letzten fremden Soldaten seine Unabhängigkeit wiedergewonnen hatte und damals noch nicht zu den reichsten Länder Europas zählte. Nach der Ungarischen Revolution und der blutigen Niederschlagung durch die Sowjets bestand das österreichische Volk seine historische Bewährungsprobe. Deshalb war die Reaktion auf die Tragödie Ungarns auch ein politischer und psychologischer Wendepunkt in der österreichischen Nachkriegsgeschichte.

Die beispiellose Hilfsbereitschaft der Österreicher und die Mobilisierung der Weltöffentlichkeit haben die Haltung von Generationen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges geprägt. Bei allen Meinungsumfragen rangieren die Ungarn stets auf den ersten Plätzen bei den beliebtesten Nachbarn. In der Spätphase des nach dem unbarmherzigen Rachefeldzug gewandelten Kádár-Regimes wirkten österreichische Spitzenpolitiker als Brückenbauer zum geknebelten Nachbarland. Nach der Wende haben dann alle österreichischen Regierungen den Beitritt des demokratischen Ungarn zur EU tatkräftig gefördert.

Wer hätte das gedacht, dass 26 Jahre nach der symbolischen Beseitigung des Eisernen Vorhanges an der Grenze zu Österreich durch die Außenminister Gyula Horn und Alois Mock die Regierung Orbán einen 175 Kilometer langen neuen Eisernen Vorhang an der Südgrenze zu Serbien (und möglicherweise auch an anderen östlichen Grenzabschnitten) mit gewaltigem Kostenaufwand bauen lassen würde.

Der (inzwischen abgesagte) Versuch, durch die Aussetzung des Dublin-Systems keine in Ungarn registrierten Asylwerber aus Österreich und anderen EU-Ländern zurückzunehmen, hat empörte Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft ausgelöst. Bereits vorher wurde eine suggestive Volksbefragung samt einer Plakatkampagne gegen Zuwanderer und Flüchtlinge in der Weltpresse scharf kritisiert. Niemand bestreitet den Migrationsdruck durch 60.000 Asylsuchende in Ungarn, die freilich alle nach Österreich und Deutschland wollen.

Es geht aber um die Solidarität, das Vertrauen und die Zusammenarbeit, um Interessenausgleich und um Respekt für die beschlossenen Regeln in der EU. Nicht nur von der provokativen Vorgangsweise in der Flüchtlingspolitik, sondern auch von den protektionistischen Maßnahmen des Orbán-Regimes (zulasten von Banken, Investoren, Handelsunternehmen und Agrariern) ist kein EU-Staat so direkt betroffen wie Österreich. Die Orbán-Regierung vergisst leider die eigene Geschichte und erweist sich nicht als ein verlässlicher EU-Partner Österreichs, sondern als ein unberechenbarer Faktor bei der Bewältigung des Flüchtlingszustroms in die EU. (Paul Lendvai, 29.6.2015)