Der gebürtige Baseler Strenger lebt heute in Tel Aviv. Er publiziert regelmäßig Blogs und Kolumnen in der israelischen Zeitung "Haaretz", der "Neuen Zürcher Zeitung" und gelegentlich in der "New York Times", dem "Guardian", der "Huffington Post" und "Foreign Policy".

Wer die Debatten nach den Anschlägen von Paris im Jänner intensiv mitverfolgt hat, ist dabei oft von einem starken Unbehagen begleitet worden. Einerseits war man mit der Absurdität konfrontiert, wer plötzlich aller "Charlie" sein wollte. Andererseits wurde allzu oft die Opfer mit Vorwürfen bezüglich ihres Verhaltens eingedeckt und so zu Tätern gemacht, während das vorgebliche Hauptmotiv der Täter, die angebliche Beleidigung durch Mohammedkarikaturen, inhaltlich häufig akzeptiert wurde. So wirft der französische Autor Emmanuel Todd den "Je-suis-Charlie"-Kundgebungsteilnehmern Rassismus und Islamophobie vor und sieht im Islam die wahre Egalität.

Um in einem derartigen argumentativen Minenfeld bestehen zu können, hat der schweizerisch-israelische Philosoph und Psychologe Carlo Strenger nun mit "Zivilisierte Verachtung" einen Essay herausgebracht, der eine scharfe Abrechnung mit der vor allem von der europäischen Linken betriebenen falsch verstandenen politischen Korrektheit darstellt. Diese stelle "eine groteske Verzerrung des aufklärerischen Toleranzprinzips dar". Auf diese Weise würde die Linke jegliche Kritikfähigkeit an die westliche Freiheit bedrohenden Strömungen über Bord werfen und der extremen Rechten den Boden bereiten.

Strenger vertritt in seinem Buch die These, dass die Europäer verlernt haben, ihre Werte und Kultur abseits von Wirtschaftsdaten und politischem und sozialem Frieden argumentativ gegen äußere und innere Bedrohungen zu verteidigen. Die zivilisierte Verachtung soll jedoch kein Mittel sein, um andere Menschen oder Kulturen willkürlich zu unterdrücken, denn: "wirklich zivilisiert ist Verachtung nur dann, wenn sie auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und einer konsistenten Argumentation basiert, die jederzeit stringenter Kritik unterworfen werden kann und nicht als Vorwand gebraucht wird, Andersdenkende zu erniedrigen und ihre Menschenrechte einzuschränken".

Er warnt vor "zu viel Verständnis für religiöse Empfindlichkeiten". Sobald Fundamentalisten mit Gewalt ihre Ziele erreichen, seien es von Karikaturen beleidigte Muslime, christliche Abtreibungsgegner oder Geschlechtersegregation betreibende ultraorthodoxe Juden, sieht Strenger die liberale Grundordnung bedroht. Die Kulturtechnik, Kränkungen zu ertragen sei hingegen ein Garant für ein friedliches Zusammenleben.

Strenger bietet kein Patentrezept für die Lösung der Fragen des islamistischen Terrorismus oder der Flüchtlingsmigration nach Europa. Allerdings liefert er allen Beteiligten am politischen Diskurs, seien es Politiker, Journalisten oder auch bloß interessierten Debattenteilnehmer, schlagkräftige Argumente zur Untermauerung einer an Aufklärung und Humanismus ausgerichteten Geisteshaltung: "Wenn die Überzeugung vorherrscht, alle Ansichten (...) verdienten denselben Respekt, geht das Niveau von Debatten regelmäßig in den Keller."

Dies beginnt mit dem Einknicken vor radikalislamischen Strömungen, indem man Debatten führt, ob man Mohammedkarikaturen überhaupt veröffentlichen darf. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen, zum Beispiel im Diskurs mit radikalen Impfverweigerern oder Klimawandelleugnern. (Michael Vosatka, 12.7.2015)