Mitten in der leidenschaftlichen Diskussion um die Antwort auf die Herausforderung der im Mai pro Kopf europaweit höchsten Asylantragszahlen in Österreich platzte wie eine politische Bombe der Bericht: Ein türkischstämmiger Wiener Arzt will bei der Wien-Wahl im Herbst mit einer "Türkenliste" oder mit einer "Moslempartei" antreten. Ob, wie von dem Gründer erhofft, die neue Partei alle Muslime ansprechen kann, ist zwar fraglich, aber die Meinungsforscher vertreten einhellig die Meinung, dass eine solche Liste, auch wenn sie den Einzug ins Rathaus nicht schafft, "ein Geschenk des Himmels" (so Thomas Hofer) für die FPÖ wäre und der SPÖ massiv schaden würde.

Es geht aber in erster Linie weder um wahltaktische Aspekte einer solchen rechtlich unanfechtbaren Initiative zur Gründung einer Migrantenpartei gegen einen befürchteten "Rechtsruck" noch darum, ob eine solche Liste auch von anderen Wählern (rund 40 Prozent der Wiener haben Migrationshintergrund) unterstützt werden würde. Die im hohen Maße demokratiepolitisch bedenkliche und auch international relevante Folge wäre die Gefahr, dass eine solche Gruppe als verlängerter Arm der AKP-Partei des autoritären türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan wirken könnte. Der Initiator ist nämlich kein unbeschriebenes Blatt. Er war bis 2013 Präsident der UETD (Union Europäisch-Türkischer Demokraten), eines Erdogan-nahen Vereins, der bei dessen Wien-Besuch 2014 rund 8000 begeisterte Anhänger mobilisieren konnte.

Laut Statistik Austria sind 105.000 der 712.000 Wiener mit Migrationshintergrund türkischstämmig, und etwa 60.000 von ihnen besitzen die österreichische Staatsbürgerschaft.

Wenn man bedenkt, dass allein aus dem ehemaligen Jugoslawien (ohne Kroaten und Slowenen) zweimal so viele Zuwanderer, nämlich eine halbe Million, verglichen mit insgesamt 263.000 aus der Türkei, in Österreich leben, dass die ethnisch-nationalen Spannungen zwischen orthodoxen Serben, katholischen Kroaten und moslemischen Albanern in Bosnien, Südserbien und Kosovo keineswegs verschwunden sind, muss man die Nebenwirkungen der geplanten türkisch-nationalreligiösen Liste als ein innenpolitisch kontraproduktives und außenpolitisch brisantes Experiment betrachten. Es fördert nicht die Einheit der Österreicher mit und ohne Migrationshintergrund in Vielfalt, sondern schafft möglicherweise Argwohn gegen die Zuwanderer.

Wie Professor Heinz Faßmann, Vorsitzender des Expertenrates, bei der Präsentation des Integrationsberichtes betonte, das Integrationsklima verbessere sich stetig; die überwiegende Mehrheit der Migranten fühle sich völlig oder eher heimisch in Österreich. Bei der Entlohnung und im Bildungswesen werden Zuwanderer benachteiligt. Die Chancengleichheit erfordert jedoch konkrete Maßnahmen und Integrationsbereitschaft. Sie wird keinesfalls durch die Gründung von religiös-nationalen und von fremden Regierungen unterstützten Parteien gefördert. Angesichts der emotional so brisanten Asylfrage braucht man – nicht nur in Österreich – über Parteigrenzen hinweg Gesprächsbereitschaft, Verständnis und Zusammenarbeit in diesem besonders sensiblen Bereich. (Paul Lendvai, 20.7.2015)