Wer die Vielfalt und Schönheit Irlands auch nur annährend erfahren möchte, sollte sie eben nicht "erfahren", sondern sich in ihr ergehen. Oder klarer formuliert: Wandern ist die angemessene Fortbewegung für dieses Land!

Erholung stellt sich von selbst ein. Im Tempo der eigenen Schritte kann man Sorgen gut loslassen. Die herzlichen Iren helfen dabei. Wir waren im Juli im Westen unterwegs und hatten Glück. Als wir ankamen, hörte ein dreiwöchiger Dauerregen auf. Es tröpfelte oder schüttete nur noch stundenweise. Damit kann man leben.

Auf dem Weg zu den Klippen

Die Route durch Irlands rauen Westen startet in Doolin, das auf Irisch dasselbe bedeutet wie Dublin: schwarzer Pool. Sonst hat Doolin wenig mit der Hauptstadt gemein. Das kleine Fischerdorf besteht aus ein paar bunten kleinen Häusern. Ein stattlicher Anteil davon sind Pubs. Fans irischer Musik kennen es seit den 1960er-Jahren als Hotspot der Musikszene.

Das Grün spielt alle Stücke, das Wasser glitzert dazwischen oder fällt plötzlich von oben herab: Rund um Killary Harbour, den einzigen Fjord Irlands, hört das Staunen nie auf.
Foto: Weltweitwandern/Christian Hlade

Schon hier, auf dem Weg entlang der Küste Doolins zu den Klippen von Moher hat so mancher hübsche Ort seine traurigen Geschichten: 1588 verunglückten in der Bucht spanische Seefahrer, die sich verirrt hatten. Überlebende wurden von den Engländern gehängt – Iren, die Spanier versteckten, auch. Heute steht da ein geheimnisvoller runder Turm, jener des Doonagore Castle, wo 170 Spanier gehängt wurden. Er steht friedlich in sattem Grün zwischen Kühen und Schafen.

Außerirdisch anmutendes Kalksteingebiet

Von Doolin schippert die Fähre zu den Araninseln in der Bucht von Galway. Die eineinhalbstündige Fahrt zur größten der drei Inseln, Inishmore, ist nichts für Landratten. Selbst an ruhigen Tagen schaukelt das Schiff so heftig, dass viele Mitreisende bald grün im Gesicht werden oder sich in Panik an ihre Sitze klammern. Das Auf und Ab kann aber auch richtig Spaß machen. Wenn man Glück hat, wird man dabei von einem Delfin eskortiert.

Auf den Araninseln wartet eine andere Welt. Sie gehört zum Burren, einem außerirdisch anmutenden Kalksteingebiet. Vergessen sind die nassen grünen Wiesen, wenn man über riesige Steinplatten klettert, zwischen denen wilde Orchideen sprießen.

Der Gus O'Connor's Pub in Doolin zählt zu den bekanntesten der Insel.
Foto: Weltweitwandern/Christian Hlade

Dass auf dieser Insel die Dichte an Heiligen und späteren Klostergründern besonders hoch war, wundert nicht. Wer in dieser steinernen Stille nicht ein bisschen spirituell wird, ist härter als Kalkstein. Noel, ein älterer Herr, erklärt uns das "Dreifaltigkeits-Prinzip" seiner Insel: "Wir haben drei Schulen, drei Kirchen und ... sechs Pubs."

Dass es hier überhaupt grüne Felder gibt, die von kleinen Steinmauern wie Labyrinthe unterteilt werden, ist ein Wunder. Bauern schufen hier einst aus einer Mischung aus Sand und zerhacktem Seetang wenige Zentimeter Erde auf dem Stein. Wer auf Inishmore wandert, sollte weder das Blow Hole, einen wie aus dem Fels geschnittenen natürlichen Pool, noch das Dun-Aengus-Fort auslassen. Das Fort geht bereits auf die Bronzezeit zurück und steht wie eine an der Felskante abgebrochene Arena 90 Meter über dem Meer.

Dunkelgrüne Rillen

Die Menschen, die auf Inishmore leben, haben es außerhalb des "Sommers", der sich in Irland durch wenige brütende Hitzetage mit 20 Grad auszeichnet, recht einsam. Die Frauen stricken viel. Ihre Strickmuster sind nicht einfach Zopfmuster. Sie sind uralt, symbolisieren meist Segenssprüche und finden reißenden Absatz.

Nach den Araninseln entern wir das Herz der Region Connemara. Wieder ein neues Land: Inmitten von Smaragdgrün liegen schwarzblaue kleine Teiche, an denen weiße Connemara-Ponys grasen. Würden noch Feen vorbeiwirbeln, man bliebe gelassen.

Auch hier trägt das Land Narben: Während der Hungersnöte zwischen 1845 und 1852 entstanden Beete auf Hängen. Die Bauern, ratlos, warum ihre Kartoffeln verfaulten, kletterten immer weiter hinauf, um anzubauen. Die Spuren der erfolglosen Versuche sind dunkelgrüne Rillen.

Die Cliffs of Moher nahe den Ortschaften Doolin und Liscannor sind die berühmtesten Steilklippen Irlands.
Foto: Weltweitwandern/Christian Hlade

Zwischen solchen Hügeln liegt Leenane (auch Leenaun), wieder so ein kleines Dorf, in dem man nach dem Wandern schneller ein Pub als den einzigen Greißler im Ortskern findet. Leenane liegt am Kopf des einzigen Fjords Irlands, dem Killary Harbour. Die Schönheit des Gewässers kann man am besten vom Gipfel des Leenane Hill sehen. Für Österreicher sind 600 Höhenmeter nichts.

Der "letzte Pool der Dunkelheit"

Doch die grünen Hänge sind nicht so gemütlich, wie sie scheinen: Da bleibt man schon mal im aufgeweichten Torf stecken. Da kommt ein Regenguss aus dem Nichts. Der Blick von oben ist jede Anstrengung wert: Granit, der in der Sonne glänzt, silberne Sturzbäche – und unten der Fjord.

Man kann auch am Fjord entlangwandern, dabei geht man auf den Spuren von Hungersnot und Ausbeutung: Der Famine Walk führt von Leenane nach Rosroe. Er war ein Arbeitsbeschaffungsprojekt für hungernde Bauern. Geschwächte Erwachsene und Kinder schufen hier Steine schleppend die Straße.

In Rosroe ist man an dem Ort, den Ludwig Wittgenstein – auf der Suche nach Dunkelheit, in der er besser nachdenken konnte – den "letzten Pool der Dunkelheit in Europa" nannte. Er verbrachte 1948 einige Monate hier.

Der Denker mit den Dosen

"Ja, ja, er soll nur Dosennahrung gegessen haben. Als er ging, hat er einen Haufen Papier liegen lassen. Ganz schöne Unordnung", erzählt Julia Mortimer. Sie betreibt einen Steinwurf vom Haus, wo der große Philosoph wohnte, ein winziges Hostel. Ihr Schwiegervater habe Wittgenstein gekannt. Der habe Vögel gezähmt. "Aber als er weg war", Julia schenkt bedauernd lächelnd Tee nach, "haben sich die Katzen die Vögel geholt."

Wieder unten am Killary Harbour.
Foto: Weltweitwandern/Christian Hlade

Die letzten Wanderungen führen weg vom Meer nach Clonbur. Zwischen den beiden großen Seen, Lough Mask und Lough Corrib, thront der Benlevy (auch Mount Gable). Unten, zwischen Clonbur und Cong, wo John Wayne den "Quiet Man" gab, wartet ein zauberhafter Wald. Hier spielt das Grün noch einmal alle Stücke: im Blätterdach über uns, auf bemoosten Steinen, auf efeuumrankten Baumstämmen. Man will sich verlaufen. Irgendein Kobold wird uns finden. Dann haben wir drei Wünsche frei. Zurückkehren, zurückkehren und zurückkehren. (Colette M. Schmidt, 18.8.2015)