Ein Pulk Leute wie fast an jeder Ecke im French Quarter. Worum man sich schart, bleibt nicht verborgen. Aus den Menschengruppen schallt Musik – sehr selbstbewusst und sehr laut. Der Trichter einer Tuba ragt hervor, trägt den Bass über die Köpfe hinweg. Zuschauer wippen mit den Füßen. Nur mal kurz stehen bleiben, so viel Zeit muss sein. Sie vergessen Termine und schlechte Laune. Wer Zeit hat, wechselt von einer Band zur nächsten, immer der Musik nach.

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Viele Musiker haben in New Orleans einen ganz normalen Acht-Stunden-Arbeitstag auf der Straße. Danach treten sie in Clubs auf.
Foto: Corbis / Bob Krist

Miese Straßenmusik könnte sich in New Orleans gar nicht halten. Für die Dollarscheine, die reichlich flattern, haben die Musikanten Kübel oder Kartons aufgestellt. Hauptsache, es sieht spontan aus, nicht nach einem Jobkonzept – auch wenn es natürlich eines ist. Eine Welt ohne Musik wäre arm, aber ein Leben ohne Geld auch. Vor allem in einer Stadt, in der die Schere seit Katrina immer weiter aufgeht. Vor genau zehn Jahren, in den frühen Morgenstunden des 29. August 2005, traf der Hurrikan mit voller Wucht auf den US-Bundesstaat Louisiana.

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Da sind die Kolonialbauten in der Altstadt, die schmalen "Shotgun Houses" in Marigny, die Villen im Garden District – alle zum Verlieben. Doch die wahre Sehenswürdigkeiten der Stadt ist Musik.

Louis blättert konzentriert Dollarnoten von einer Hand in die andere, nachher muss geteilt werden. Nicht nur mit Rob und Chris, die neben ihm sitzen. Der Rest der vielköpfigen Free Spirit Brass Band lümmelt auf den Bänken nebenan herum und macht Scherze. Der Jackson Square im pittoresken French Quarter ist vermutlich die größte Bühne der Stadt. Die Musiker teilen sich den Platz mit Künstlern, die ihre Werke nonchalant an den historischen Zaun hängen, und Wahrsagern, die auf Campingtischen Tarotkarten legen oder mit Voodoo für den Hausgebrauch aufwarten.

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Die Musiker teilen sich die Straßen mit Künstlern und Wahrsagern, die auf Campingtischen Tarotkarten legen oder mit Voodoo für den Hausgebrauch aufwarten.

"Wir haben einen ganz normalen Acht-Stunden-Tag", meint Louis. "Allerdings nicht nine to five, sondern twelve to eight." Danach treten sie in Clubs auf. Dazu kommen Hochzeiten und Second Lines, wie die berühmten Paraden mit Blasmusik, Sonnenschirmen und Tanzenden heißen, die man im modernen New Orleans einfach über Agenturen buchen kann. "Ich verdiene doppelt so viel wie mit anderen Jobs", erzählt der 27 Jahre alte Rob. Angefangen hat er damit aber aus einem anderen Grund. Vor fünf Jahren wurde ein Freund ermordet, der Straßenmusiker war: "Auf seiner Beerdigung habe ich beschlossen, dass ich für ihn weitermache." Musik ist in dieser Stadt Auslöser für Lebensentscheidungen, aber auch eine Selbstverständlichkeit.

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Second Lines, wie die berühmten Paraden mit Blasmusik, Sonnenschirmen und Tanzenden heißen, kann man im modernen New Orleans einfach über Agenturen buchen.

Die Band zieht weiter in die Bourbon Street, die von Touristen meistfrequentierte Amüsiermeile. Selbst tagsüber sieht man hier Besucher mit "Hand Grenades" herumschlendern, dem angeblich stärksten Drink der Stadt. Der Cocktail wird aus grellgrünen Behältnissen in Handgranatenform getrunken. Wahre Cocktailfans betrachten das mit Befremden, hat doch New Orleans charmantere Drinks zu bieten. Dank des experimentierfreudigen kreolischen Apothekers Antoine Peychaud gilt die Stadt nicht nur als Wiege des Jazz, sondern auch als Wiege der Cocktails – zumindest aus New Orleaner Sicht.

Hörbare Sehenswürdigkeiten

Natürlich gibt es hier auch alte Kirchen, hübsche Häuser, geheimnisvolle Friedhöfe, lehrreiche Museen, mahnende Denkmäler – alles vorhanden. Da sind die Kolonialbauten in der Altstadt, die schmalen "Shotgun Houses" in Marigny, die Villen im Garden District – alle zum Verlieben. Doch die wahren Sehenswürdigkeiten der Stadt werden ganz klar in Hertz gemessen. Ob in der Hotellobby, beim Frühstücksbuffet, in der Bar oder im Club – an hundertzwanzig Orten quer durch die Stadt treten regelmäßig Bands auf, die Straße nicht mitgerechnet. Dass in New Orleans schon von jeher die Musik den Takt angibt, soll am kulturellen Mix aus Afroamerikanern, Kreolen und europäischen Einwanderergruppen liegen.

Im Palm Court Jazz Café im French Quarter spielt gerade lautstark die Hausband, mit Kontrabass, Saxofon, Posaune, Trompete, Schlagzeug und einem Steinway-Flügel. Das Publikum trinkt Bier und lässt sich das kreolische Essen schmecken: Shrimps mit Ingwer und Sesam, frittierte Austern, Chicken Gumbo. Die meisten Gäste sind Pensionisten. Trotzdem wird spontan und mittendrin getanzt, darunter ein Paar über neunzig. Die beiden können sich nur ganz langsam bewegen, aber die Erinnerung galoppiert.

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Im Palm Court Jazz Café im French Quarter sind die meisten Gäste und manchmal auch die Musiker Pensionisten. Trotzdem wird spontan getanzt.

Offensichtlich ist einer der Herren im Publikum eine Berühmtheit. Die Wirtin holt ihn auf die Bühne. "Bob Wilber is in town!" Der 87-jährige Jazz-Saxofonist ist fürs "Jazz and Heritage Festival" in der Stadt, das jedes Jahr hunderte internationale Musiker sowie bis zu 450.000 Besucher nach New Orleans zieht.

Nina Buck, mit bodenlangem Kleid, blond gefärbten Haaren und ein paar Drinks zu viel, ist ganz aufgelöst vor Rührung. Sie hat dieses Jazzcafé vor 25 Jahren eröffnet – eigentlich nur, weil ihr Mann George oben ein Aufnahmestudio hatte und ihr der Raum gefiel. Dieses Jahr geht ihre Hausband zum ersten Mal seit Katrina wieder auf Tour. Der Hurrikan vor zehn Jahren traf New Orleans, als sie gerade in Europa auftraten. Nina hatte Glück, nur das Dach musste neu gemacht werden. Schon zwei Monate nach der Katastrophe öffnete sie wieder: "Ich wollte weitermachen, auch wenn es nicht viele Gäste gab. Es vermittelte den Leuten das Gefühl, dass zumindest etwas lebt."

Kleiner, weißer und reicher

Das French Quarter gehörte zu den 20 Prozent der Stadt, die nicht überflutet wurden. Da dieses Viertel der erste Anlaufpunkt für Touristen ist, merken sie von den Nachwehen wenig. Doch nimmt man sich ein Taxi und schaut sich andere Viertel an, finden sich Holzhäuser, Ruinen gleich, deren Besitzer noch immer nicht zurückgekehrt sind. Manchen fehlt dafür schlicht das Geld – sowohl fürs Retten des Hauses, oft aber schon fürs Flugticket. Denn bei der Evakuierung wurden die Leute weit über die USA verteilt.

Man wertet es als Erfolg, dass über die Hälfte der Stadtviertel wieder zu mehr als neunzig Prozent bewohnt sind. Die Stadt ist kleiner, weißer und reicher geworden. Die Einwohnerzahl liegt bei 369.000, vor Katrina waren es 450.000. Der Anteil der Schwarzen sank von 67 auf 59 Prozent. Die staatlichen Wiederaufbaugelder wurden ins Erscheinungsbild gesteckt, sodass sich New Orleans heute über weite Teile schöner und sicherer zeigt denn je. Die Zahl der Touristen steigt beständig, hat 2014 fast wieder die Rekordzahl von zehn Millionen aus dem Vor-Katrina-Jahr erreicht.

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Unten am Mississippi liegt der Schaufelraddampfer Natchez. Noch bevor man ihn sieht, hört man die Dampforgel auf dem oberen Deck.

Unten am Mississippi liegt der Schaufelraddampfer Natchez. Noch bevor man ihn sieht, hört man die Dampforgel. Der Wind trägt die Melodien hinauf bis zum French Market. Debbie Fagnano steht mit Stöpseln in den Ohren auf dem oberen Deck und greift in die Tasten. Frau Dampforgel ist studierte Musikerin und vielleicht der beste Beweis dafür, dass das musikalische Können in New Orleans überall zählt, auch auf einer so touristischen Einrichtung. Die 60-Jährige wechselt zwischen der Orgel in einer Kirche und jener der Natchez hin und her.

Gerade schallt über dem Mississippi das lustige Liedchen Mein Vater war ein Wandersmann. Irgendwie will das nicht so recht zum Geburtsort des Jazz passen, aber da New Orleans auch "The Big Easy" genannt wird, sieht man das vermutlich locker. (Anja Martin, RONDO, 28.8.2015)