Achtsamkeits-Seminare, Zeitmanagement-Kurse und Stress-Reduktionstrainings. CDs mit Urwaldgeräuschen, Burnout-Yoga, Lachtherapie. All das soll vom lästigen Gefühl der Überforderung befreien, entspannen, entlasten, ablenken. Zur Nachbehandlung gibt's Apps für einen gesunden Schlaf – und Digitalentzugskuren, die auch die durch diese Devices entstandene Belastung unmittelbar eliminieren und ausbalancierte, produktive – und glückliche Mitarbeiter hervorbringen sollen. Aber geht die Rechnung auf?

Nein, sagen Experten schon länger – Psychotherapeutin Helen Heinemann setzt noch eins drauf: mit ihrem neuen Buch "Warum Stress glücklich macht". Darin schreibt sie: "Ich glaube nicht daran, dass Stress das Gegenteil von Glück ist. So einfach ist es nicht."

Adrenalin, Endorphine, "Sinn"

Wenn man sich erst einmal damit beschäftige, was den meisten Menschen an ihrem Beruf liegt, würde man schnell erkennen, dass er ihnen das Gefühl des Gebrauchtwerdens gebe, ihrem Dasein einen "Sinn" verleihe, meint Heinemann. Stress sei also zunächst ein Zeichen dafür, dass etwas Bedeutung für uns habe. Ein stressfreies Leben sei folglich keineswegs ein glückliches Leben.

Um ihre These zu untermauern, führt Heinemann Situationen ins Treffen, in denen es Menschen "unter Aufgebot all ihrer Kräfte" besonders gut gehe. Vom Bungeejumper, der sich an einem Gummiseil mehrere hundert Meter in die Tiefe stürzt, ist ebenso die Rede wie von der Journalistin, die erst kurz vor Redaktionsschluss mit einem Artikel fertig wird.

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Entspannung sei doch eigentlich langweilig, schreibt Therapeutin und Gesundheitsexpertin Helen Heinemann.
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Verantwortlich dafür, dass beide in diesen vermeintlich brenzligen Situationen Hochgefühle empfänden sei ein bestimmter Bereich im Gehirn: das "Mandelkern-Pärchen", im Wissenschaftsjargon Amygdala genannt. "Sieht sich der Mensch mit einem plötzlichen Ereignis, einem Reiz, einer besonderen Herausforderung oder Gefahr konfrontiert", schreibt Heinemann, "schlägt die Amygdala Alarm – und sorgt dafür, dass der Körper sofort einen ganzen Hormoncocktail ausschüttet." Adrenalin schießt ein, Endorphine werden freigesetzt, eine Art körpereigenes Morphium: "das verursacht, dass wir uns zunächst einmal sehr wohl fühlen, wenn wir Stress haben."

Aktiver vs. passiver Stress

In Seminaren habe sie oft von Teilnehmern gehört, dass die Situation, in der diese sich in den letzten Monaten am glücklichsten fühlten, eine Situation war, in der sie besonders viel innerhalb kürzester Zeit leisten mussten, schreibt Heinemann. "Ob uns eine Arbeit stresst oder nicht, liegt also nicht an der Arbeit an sich, sondern in der Beziehung, die wir zu dem haben, in das wir unsere Energie stecken." Wenn uns etwas gelingt, seien wir happy. Erst unter bestimmten Voraussetzungen schade Stress.

Wichtig sei daher, zwischen positivem und negativem Stress zu unterscheiden – zwischen aktivem und passivem Stress. "Passiver Stress herrscht dann, wenn ich unter Dingen leide, die ich angeblich zu tun habe." Das könne eine "sinnlose Telefonkonferenz" am Donnerstagnachmittag sein, ebenso wie ein Familyevent als wöchentlicher Fixtermin. Passiver Stress, das sei jener Stress, der uns fertig mache.
Aktiven Stress würden wir dann erleben, wenn wir Dinge voran treiben, "voll und ganz in unserer Arbeit aufgehen". "Er bietet die Möglichkeit zur Entfaltung, lässt uns Anerkennung und Wertschätzung erfahren." Genau auf diesen Stress gelte es, zu setzen.

Wozu?

Wie das gelingen kann? Indem wir uns fragen, wozu wir Dinge tun, rät Heinemann, und "indem wir von Tag zu Tag neu entscheiden". Ist es wirklich zielführend, wenn wir um 23 Uhr Firmenmails checken? Muss es dabei bleiben, dass wir jeden Freitag die Wohnung putzen? Wäre es nicht viel schöner, aus dem scheinbaren Zwang auszubrechen und den Tag spontan, nach den eigenen Regeln, zu gestalten? "Die Frage nach dem Wozu gibt mir auch die Freiheit, mich von unnützen Dingen zu verabschieden. Das sind oft genau die, die mich negativ stressen."

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Für den Umgang mit sogenanntem negativen Stress rät Heinemann: Grenzen setzen, öfter Nein sagen, sich selbst loben. "Sonst geht man vor die Hunde."
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Umgekehrt könne die "Wozu"-Frage auch helfen, sich wieder mehr für den Job erwärmen zu können. Arbeit – jede Arbeit – sei für Kollegen, für Kunden, für einen selbst von Wert. Heinemann: "Erst wenn wir uns diesen Wert einer Handlung klarmachen, gewinnt sie an Bedeutung und kann uns Erfüllung schenken." Durch die Wozu-Frage gewinne man Weitsicht. Sie entlaste. "Und es kann sogar die Erkenntnis kommen: Der Job muss mich nicht unbedingt glücklich machen – das ist nicht seine Aufgabe. Lassen Sie sich darauf ein."

Grenzen setzen und loben

Ebenfalls wichtig für einen guten Umgang mit negativem Stress: "Sich klarzumachen, was wirklich von Ihnen wirklich erwartet wird", schreibt Heinemann. "Ein Großteil dessen, was wir an Erwartungen spüren und auszufüllen versuchen, ist eine reine Vermutung von uns." Ein Nein könne helfen, eine Grenze zu ziehen, für sich selbst und die anderen.

Durststrecken in punkto Lob und Anerkennung – die ebenfalls für gute Gefühle sorgen – könnten überwunden werden durch das Bewusstmachen der eigenen Leistung, das Sich-selbst-Lieben, -Achten und -Ehren. Für einen Wandel der Unternehmenskultur insgesamt könne auch die Wertschätzung eines Kollegen zuträglich sein. Heinemann: "Man kann darunter leiden, dass es keine Anerkennung gibt. Oder es ändern." Gefragt sei ein wenig Mut. "Wenn ich mich erst traue, dem anderen seinen Wert zu zeigen, ist der Anfang gemacht, dass ich auch meinen erfahre."

"Mach mehr!"

"Stressabbau wird oft als die Anleitung zum 'Runterkommen' gelehrt", schreibt Heinemann abschließend. "Ich finde das Gegenteil ist richtig: Mach nicht einfach weniger, sondern mach mehr! Lebe mehr von dir selbst."

Letztendlich braucht es offenbar also doch die Arbeit (im Job und an uns selbst), das Gefordertsein, und hie und da sogar ein wenig Überforderung. Selbst wenn Burnout-Yoga und Co. tatsächlich wirken würden, sei die erzielte Entspannung vielleicht für eine gewisse Zeit ganz angenehm, wie Heinemann schreibt, werde dann aber schnell langweilig. "Wäre der Stress im Nu weg, wäre das das Schlimmste, was uns passieren könnte." (lib, 27.8.2015)