Bringt Holokratie ein Unternehmen weiter? Experten, wie beispielsweise der Standford-Professor Jeffrey Pfeffer, sind skeptisch.

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Wenn sich die Mitarbeiter des Versandhändlers Zappos zum wöchentlichen Meeting treffen, geht alles ein bisschen anders zu als in gewöhnlichen Unternehmen.

In dem mit Star Wars-Devotionalien dekorierten Konferenzraum kann jeder der insgesamt 1500 Mitarbeiter Vorschläge einbringen – ganz egal, welche Position er innehat: vom Busfahrer bis zum Buchhalter. Der Vorstandschef des auf Schuhverkauf spezialisierten Online-Händlers Tony Hsieh hat einen kühnen Plan: Er will Hierarchien abschaffen und jeden zu seinem eigenen Boss machen. Es ist eines der größten Experimente in der Managementgeschichte.

Holokratie statt Hierarchie

Am 24. März dieses Jahres erhielten die Mitarbeiter von Zappos eine Rundmail von ihrem Chef. "Das ist eine lange E-Mail", eröffnete Hsieh das Schreiben. "Nehmen Sie sich 30 Minuten Zeit, um die Mail in Ruhe und in Gänze zu lesen." Darin skizzierte er das Konzept der Holokratie, das ohne Managementstrukturen auskommen soll und im Grundsatz jeden Mitarbeiter gleichberechtigt. Das Konzept geht auf den Schriftsteller Arthur Koestler zurück, der 1968 in seinem Buch Das Gespenst in der Maschine eine Theorie über offene hierarchische Systeme formulierte.

Der Software-Ingenieur Brian Robertson verfeinerte diesen Gedanken. Als ihn Hsieh auf einer Konferenz traf, war er begeistert. Hsieh stellte seinen Mitarbeitern ein Ultimatum: Entweder sie akzeptierten die neue Unternehmensform, oder sie müssten gehen. "Unser Ziel ist, Zappos zu einem vollständig selbstorganisierten, selbstgemanagten Unternehmen zu machen", schrieb Hsieh in dem seitenlangen Me-mo.

Milliardär und Motivator

Der aus Taiwan stammende Stanford-Absolvent gilt als Guru in der Branche, er ist ein glänzender Motivator und Redner.

1998 verkaufte er sein Unternehmen LinkExchange für 280 Millionen Dollar an Microsoft. Zappos wurde von Amazon für 1,2 Milliarden Dollar übernommen. Die Aufkäufe machten Hsieh zum Milliardär – und zu einem gefragten Gesprächspartner im Silicon Valley. Sein 2010 erschienenes Buch Delivering Happiness stand wochenlang auf den Bestsellerlisten und fungiert bei manchem Start-up-Gründer als Unternehmensbibel. Hsiehs Mission ist neben Schuhen auch Glück zu liefern.

Und jetzt will er sein Unternehmen umkrempeln: keine Hierarchien, keine Manager. Er betonte, dass es nicht um Gleichmacherei gehe, sondern um die Stärkung von Eigenverantwortung. Danielle Kelly, die früher in einem Callcenter und jetzt für Zappos in Las Vegas arbeitet, sagte der New York Times: "Eine Person, die nur Telefongespräche annimmt, kann etwas für das ganze Unternehmen vorschlagen. Es gibt jedem Einfluss, um mit einer Stimme zu sprechen."

Nicht allen schmeckt es

Doch nicht jeder war von dem Konzept begeistert. 14 Prozent der Mitarbeiter, vor allem solche in Führungspositionen, verweigerten Hsieh die Gefolgschaft. Sie wollen sich keinen Kommunismus à la Silicon Valley oktroyieren lassen.

Den Chef ficht das nicht an. Der umtriebige Manager will Führungsebenen schleifen und Synergien schaffen. Dass solch ein radikaler Umbau Verärgerung und Verbitterung erzeugt, nimmt er als nötiges Übel in Kauf. Für ihn geht es um das große Ganze, seine Mission, Glück zu verkaufen. Hsieh ist ein rastloser Manager, der bis zu 20 Stunden am Tag arbeitet. Sein Bestsellerbuch schrieb er nachts, aufgeputscht von Alkohol und Koffein. Wie ein Berserker macht er sich über sein Imperium her, verschlingt in seiner Freizeit Fachbücher und destilliert die Inhalte.

Wer weiß was besser?

Das Konzept stellt so ziemlich alle Managementtheorien auf den Kopf, in denen es unisono heißt, dass unerfahrene Angestellte von Führungskräften angeleitet werden müssen. Befürworter des Konzepts argumentieren, dass in großen Organisationen Probleme ungelöst bleiben. Im Zweifel weiß der Busfahrer besser Bescheid als der Manager. Evan Williams, der Gründer und ehemalige Chef von Twitter, gilt als Verfechter fluider Strukturen. Aber ist das realistisch? Kann ein Unternehmen ohne Hierarchie und Führungspositionen auskommen?

Jeffrey Pfeffer, Managementprofessor an der Stanford-Universität, ist skeptisch. Im Gespräch mit dieser Zeitung sagt er: "Holokratie ist die falsche Antwort auf die richtige Motivation. Es gibt Belege, dass die Leute mehr Mitsprache am Arbeitsplatz wollen und Selbstmanagement bessere Geschäftsergebnisse erzielt. Gleichwohl ist der holokratische Ansatz mit seinen endlosen Prozeduren nicht der beste Weg, dies zu erreichen."

Weniger attraktiv?

Studien belegten, dass Leute, die in einer Gruppe arbeiten sollen, sich automatisch hierarchische Strukturen geben. Dass man einen Chef braucht, ist eine Art Naturgesetzlichkeit.

Mit dem Selbstmanagement würden den Mitarbeitern nun Strukturen auferlegt, die sie intrinsisch gar nicht wollten. Glaubt man der Erhebung "Best Companies to Work For" des US-Magazins Fortune, ist Zappos in der Gunst der Arbeitnehmer gesunken. Belegte der Online-Händler 2011 mit Platz sechs noch eine Spitzenposition (vor Mercedes Benz USA, Cisco und Goldman Sachs), ist er in der Liste der beliebtesten Unternehmen in diesem Jahr auf Platz 86 abgerutscht. Ob das an der Umstrukturierung liegt, ist fraglich, jedenfalls ist der Index ein valider Indikator für die Attraktivität eines Unternehmens.

Hsieh könnte mit seinem Umbau den Bogen überspannt haben. Ganz ohne Autorität geht es nicht. Jedes Unternehmen braucht Führungsstrukturen. Eine hierarchiefreie Unternehmensorganisation bleibt wohl eine Utopie. (Adrian Lobe, 29.8.2015)