Die Zikaden scheinen noch zu schlafen. Nirgendwo ertönt ihr schnarrender Gesang, der hier sonst bis abends aus den Bäumen schallt. Vermutlich ist es noch zu früh. Die Sonne ging soeben auf, hie und da lungern Nebelschwaden am Rande des Auwaldes herum. Für Grau- und Silberreiher indes hat der Tag schon angefangen. Ein paar der eleganten Vögel staksen an den Ufern entlang, auf der Suche nach ihrem Frühstück. Zwei Kilometer weiter stromabwärts überspannt die Brücke von Pinzano den Fluss Tagliamento. Der spärliche Verkehr ist nicht zu hören.

Man steigt in das erstaunlich kalte Wasser eines Nebenarms und watet einige Schritte. Der Kies massiert die nackten Fußsohlen. An einer ruhigen Stelle, etwas abseits der Strömung, wimmelt es vor Fischbrut. Auf angeschwemmten Baumwurzeln sitzt ein Eisvogel, der den Schwarm genau im Auge behält. Ideale Beute für den buntgefiederten Kollegen.

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Der Blick sucht weiter, unter überhängenden Büschen und in tieferen Gumpen. Wo sind die Forellen? Nirgendwo lässt sich eine der typischen länglichen Silhouetten ausmachen. Das Wasser ist kristallklar. Fisch und Fischer können sich leicht gegenseitig erspähen – was für die Pirsch nicht unbedingt förderlich ist. Da hilft nur Weitwurf. Eine gezielte Bewegung mit der Rute, und der Köder, ein kleiner Kunstfisch aus Holz, landet kurz vor einem halb versunkenen Ast. Doch keine Forelle schießt aus ihrem Versteck hervor und holt sich den vermeintlichen Leckerbissen. So einfach wird das heute wohl nicht.

Am Tagliamento indes soll es nicht liegen, denn der Fluss gilt als überaus fischreich. Insgesamt 30 verschiedene Fischspezies konnten Experten von der Quelle in den Karnischen Alpen bis zur Mündung in die Adria nachweisen. Die Bestände sind stabil und die natürliche Vermehrung gut. Das liegt vor allem am natürlichen Flusslauf, erklärt Alexander Sukhodolov, Wissenschaftler am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) in Berlin.

Fast ohne Regulierung

Im Gegensatz zu anderen Alpenflüssen wurden am Tagliamento bisher fast keine Regulierungsmaßnahmen durchgeführt. Er kann sich frei durch sein zum Teil zwei Kilometer breites Bett wälzen. Die zahlreichen Nebenarme, Flachwasserzonen und Totholzansammlungen bieten dem Fischnachwuchs ideale Kinderstuben. Doch nicht nur unter der Wasseroberfläche pulsiert das Leben.

Viele Urlauber aus Österreich und anderen europäischen Ländern kennen den Tagliamento, ohne ihn je bewusst angeschaut zu haben. Auf der Fahrt zu den Badeorten an der Adria überqueren sie das Gewässer gleich zweimal – über Brücken der Autostrada A23. Was die Reisenden sehen, gleicht auf dem ersten Blick einer Steinwüste. Die ausgedehnten Kiesflächen sind nur von wenigen wasserführenden Rinnen durchzogen. Dieses Bild kann sich dramatisch wandeln, wie Alexander Sukhodolov betont.

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Im Frühling, zur Zeit der Schneeschmelze, oder bei Starkregen, wird der Tagliamento zum reißenden Strom, und schiebt tonnenweise Sand und Schotter talwärts. Diese Dynamik prägt das Ökosystem. Sedimentablagerung lässt neue Inseln entstehen, auf denen sich vielerlei Pflanzenarten ansiedeln. Zahlreiche Insekten und Vögel kommen hinzu. An verbauten Flüssen finden viele von ihnen kaum noch Lebensräume. Der ungebändigte Tagliamento ist eine wahre Schatzkammer der Natur.

Sukhodolov studiert das Gewässer seit vielen Jahren. Für Wissenschaftler wie ihn ist der Tagliamento Referenzbibliothek und Freiluftlabor zugleich. Die gewonnen Erkenntnisse lassen sich für die Planung von Renaturierungsmaßnahmen an anderen Flüssen nutzen. Sogar japanische Fachleute sind deshalb schon hierher gepilgert. Mittlerweile kommen auch immer mehr Naturerlebnistouristen.

Foto: Kurt de Swaaf

Für Kanufahrer ist der Fluss mit seinem Alpenpanorama ein wahres Dorado – trotz zahlreicher Untiefen. Angler können hier ebenfalls wunderbare Tage verbringen. Als besonders begehrte Beute gilt ihnen die berühmte Marmorata-Forelle. Diese räuberische Verwandte unserer heimischen Bachforelle kommt nur in den alpinen Adriazuflüssen Italiens und Sloweniens, sowie auf dem Westbalkan vor. Sie kann eine Länge von über 70 Zentimetern erreichen. Zum Schutz der Bestände ist die Fischerei am Tagliamento strengen Regeln unterworfen.

Gänsegeier, zum Glück

Es ist elf Uhr, und die Hitze lässt die Fangchancen schwinden. Zeit für einen Landausflug. In der Nähe des Monte Pedroz gerät man dabei unter Geier. Zum Glück. Ein riesiger Gänsegeier schwebt in gemütlichem Gleitflug über das Dorf Cornino hinweg. Er ist offenbar nicht der einzige, der sich hier wohlfühlt. Wenige hundert Meter weiter, am Lago di Cornino, kreisen sechs weitere Exemplare über einer steilen Felswand. Sie nutzen die Thermik. Ein gutes Dutzend Raben hat sich dem Spiel angeschlossen. Gänsegeier gehören mit einer Flügelspannweite von mehr als zwei Metern zu den größten europäischen Vogelarten. Fürwahr ein majestätischer Anblick.

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Die starke Präsenz der Tiere am Tagliamento ist einem Artenschutzprogramm zu verdanken. "Vor 20 Jahren hatten wir hier in der Region nur 20 Vögel", erklärt Fulvio Genero, Leiter des Besucherzentrums Lago di Cornino. Inzwischen sei die lokale Gänsegeier-Population auf rund 140 Exemplare angestiegen, im Sommer werden manchmal über 200 Geier gezählt. "Dann kommen auch welche von den kroatischen Kolonien herüber." Oder sogar aus Bulgarien und Spanien.

Auf der Suche nach Nahrung unternehmen die Tiere ausgedehnte Streifzüge, und werden in Cornino fündig. Wenige Minuten Fußweg vom Zentrum entfernt haben Genero und seine Mitstreiter einen Futterplatz eingerichtet. Dort deponieren sie mehrmals in der Woche Schweinekadaver und totgefahrenes Wild. Die Geier können sich den Bauch vollschlagen.

Das Abendessen ist gesichert

Die Bauern in der Umgebung sind erfreut über diese Zusammenarbeit, sagt Fulvio Genero. Sie sparen so die Kosten für die Tierkörperbeseitigung. Die Fütterungen selbst locken nicht nur Geier, sondern auch Schaulustige an. "Am besten kommt man am nächsten Morgen früh vorbei. Dann treffen auch die Vögel ein", sagt Genero.

Zurück an den Fluss. Kurz vor Sonnenuntergang scheinen die Fische endlich aktiv zu werden. Vielleicht liegt es an den Insekten, die gerade zu Tausenden herumschwirren. Im wirbelnden Wasser hinter einem Felsblock stürzt sich plötzlich etwas Größeres auf den Köder: eine Marmorata, knapp vierzig Zentimeter lang. Es gibt sie also tatsächlich. Das Abendessen nachher wird ein Fest. (Kurt de Swaaf, 18.9.2015)