John wirft sich nach links, John schmeißt sich nach rechts. Der schlaksige Bursche lässt die wuchtigen Bälle nicht abklatschen, nein, er hält sie fest. Keine Frage, der Torhüter ist ein Naturtalent. Im Fachjargon würde man ihn Spinne oder Panter nennen. Schier unüberwindbar ist er heute, der Panter von Favoriten! Ebendort steht die Nachwuchsakademie der Wiener Austria. Der Nationalheilige David Alaba ist ihr entsprungen, die ÖFB-Teamspieler Aleksandar Dragovic, Markus Suttner und Rubin Okotie ebenso.

An der Laaer-Berg-Straße werden einige der größten Talente des Landes zu Profis herangezogen, hier soll Nachschub für die Bundesliga und in weiterer Folge für das Nationalteam entstehen. Stolz tragen jugendliche Spieler verschiedener Altersklassen das Vereinswappen der Austria über die moderne Anlage. John ist keiner von ihnen.

Der 15-Jährige stammt aus dem Südsudan. Er entfloh der Gewalt in seinem Geburtsort Malakal, um im niederösterreichischen Hirtenberg im Laura-Gatner-Haus für unbegleitete Minderjährige eine neue Heimat zu finden. Nun, da die Austria jeden Freitag jugendliche Flüchtlinge zum Training einlädt, sieht er seine Chance gekommen. "Ich will Profi werden", sagt er selbstbewusst – und fischt den nächsten Ball aus der Ecke.

Akademie-Leiter Ralf Muhr begrüßt die Gäste. Englisch ist Amtssprache.
Foto: Standard/Robert Newald

Ralf Muhr ist Leiter der Akademie, er selbst drischt die Bälle von der Strafraumgrenze Richtung John. "Wir wollen mit den Jugendlichen eine lässige Stunde verbringen, viele haben traumatische Erlebnisse hinter sich und sollen auf andere Gedanken kommen." Im Laufe der Saison hatte man bereits Flüchtlinge zu Matchbesuchen in die Generali-Arena eingeladen. Nun hat die Initiative connect.erdberg auch eine wöchentliche Trainingseinheit möglich gemacht. Mit sportlichen Aktivitäten will man der Gefahr eines Lagerkollers unter Flüchtlingen begegnen.

Die Austria stellt nicht nur die gepflegten Kunstrasenplätze der Akademie, sondern auch ihre Profitrainer zur Verfügung. "Wenn man die große Hilfsbereitschaft in Österreich sieht, möchte man einen Beitrag leisten", sagt Cem Sekerlioglu, Trainer der violetten U18. Natürlich müsse man sich Zeit nehmen, ein Blick in die freudigen Gesichter der Spieler spräche aber für sich. "Das sind keine verlorenen Stunden", sagt Sekerlioglu, dreht sich um und gibt den Kickern Tipps in Sachen Ballannahme.

Variables Spielsystem

Nach dem Aufwärmen ruft Muhr alle Burschen zu sich. Man möge sich im Match auf den Spaß an der Sache besinnen, ein Pokal sei hier nicht zu gewinnen: "Let's have a good time". Die Teenager nicken höflich, teilen sich in zwei Teams auf und gehen dann rustikal zu Werke. Das System variiert von 10-0-0 bis 0-0-10, Viererketten haben heute Pause. Professionelles Schuhwerk auch. Man sieht Sneakers, Straßenschuhe, nackte Füße.

Der eine trägt ein Dress von Bayern München, der andere eine Kappe von Schalke 04. Und schon zappelt der Ball im Netz, ein satter Schuss in die Kreuzecke. Der Torschütze streckt seine Arme Richtung Himmel, um seinem großen Gott für diesen Geniestreich zu danken. "Messi! Messi!", ruft er. Die Trainer schmunzeln. Sie beobachten die Spieler genau, die Unterschiede sind augenscheinlich. Manche haben schon in ihrer Heimat gekickt, die anderen sind mit dem Ball per Sie.

"Was eigentlich, wenn sich einer verletzt?", fragt Muhr seine Mitarbeiter. Kollektives Achselzucken. "Wenn wir mit zu viel Bürokratie anfangen, können wir es gleich bleibenlassen", zeigt sich der Chef flexibel – um dann doch das Telefon zu zücken. "Passt, alle versichert", heißt es nach kurzer Rücksprache.

Kopfballtraining unter der Aufsicht von Cem Sekerlioglu. John steht derweil im Tor.
Foto: Standard/Robert Newald

Die Trainer reden nicht nur über Fußball, das Thema Flüchtlinge hat sie ergriffen. Man spricht über Menschen, über Schicksale. "Hier hat jeder seine eigene Geschichte", sagt Muhr. Derweil spielen sich zwei Teenager aus Somalia den Ball hochkonzentriert mit dem Kopf zu. Fragt man die beiden in einer kurzen Pause nach dem Grund ihrer Flucht, sagen sie zeitgleich "Al-Shabaab".

Unter der islamistischen Miliz hätte es nur drei Optionen gegeben: Morden, ermordet werden oder so schnell wie möglich das Weite suchen. Jetzt sei man froh, in einem sicheren Land untergebracht zu sein. Kein Klagen, viel Optimismus. Das Essen sei toll, man werde unterrichtet, alles in Ordnung. Dass der Stromanbieter Verbund in der Akademie auch noch Rucksäcke mit T-Shirts, Regenjacken Trinkflaschen und Lebensmittelgutscheinen verteilen lässt, sorgt zusätzlich für gute Stimmung. "Wie die Burschen gekommen sind, waren sie noch recht zurückhaltend, aber jetzt tauen sie allmählich auf", sagt Muhr. Nachsatz: "Der Fußball kann das Eis brechen."

Ein Goalie unter der Lupe

Auch Roman Stary ist Teil des Trainergespanns. Er coacht im Alltag Austrias U16 und nimmt Goalie John unter die Lupe. "Ich würde ihn gerne in unserem regulären Trainingsbetrieb sehen. Das wäre eine unglaubliche Geschichte. Er ist sehr flink." Aber hier am Laaer Berg reicht es nicht, Talent zu haben. Hier braucht es langjährige sportliche Ausbildung, hier wird der nächste Robert Almer, der nächste Heinz Lindner gesucht. Und die haben nicht erst mit 15 angefangen.

Wer John länger beobachtet, merkt, dass in Sachen Beinarbeit und Ballbehandlung einiges fehlt. Und ein Torhüter der Neuzeit braucht eben auch seine Füße. Ob diese Defizite überhaupt noch aufzuholen sind? "Er würde es sehr schwer haben", sagt Muhr. Und während all die anderen Spieler Schluss machen, trinken gehen, Fotos schießen, steht John noch auf dem Platz. Er lässt sich die Bälle zuspielen. Immer und immer wieder. Alle auf den Fuß. (Philip Bauer, 21.9.2015)