Die Sonne steht schon tief am Horizont, die Grabsteine werfen lange Schatten auf dem alten Friedhof von Salem, Massachusetts. Doch auch an diesem Oktobertag wird Richard More, ein hier begrabener Passagier des Segelschiffes Mayflower, mit dem die Pilgerväter nach Amerika kamen, keinen Seelenfrieden finden. Verantwortlich für die Ruhestörung ist vor allem sein Grabnachbar John Hathorne, Richter bei den berüchtigten Hexenprozessen von Salem im Jahr 1692. Seinetwegen tummeln sich so viele Neugierige auf der Begräbnisstätte.

Der Ortsname Salem kommt vom hebräischen Wort Schalom, also Friede – damals wie heute wirkt er schlecht gewählt für diese Stadt 30 Kilometer nordöstlich von Boston. Den ganzen Oktober lang finden dort die Salem Haunted Happenings, die sogenannten Spuktage, statt. Überall in der Stadt werden Straßen für den Verkehr gesperrt, es gibt ausgelassene Umzüge, Veranstaltungen und Führungen. Seinen Höhepunkt hat der Spuk am 31. Oktober zu Halloween, dann strömen besonders viele Menschen in die Stadt.

Der Friedhof von Salem
Foto: Jasmine Gordon

Der Friedhof aus dem Jahr 1637 ist längst eine Pilgerstätte geworden für Anhänger alles Magischen und für jene, die sich dort ein wenig Gratisgruseln abholen wollen. Die traurige Geschichte vom ausgeuferten Denunziantentum, das letztlich 150 wahllos der Hexerei Beschuldigte ins Gefängnis brachte und für 20 die Ermordung bedeutete, ist dabei ins Hintertreffen geraten. Salem hat sich schon vor Jahrzehnten in eine Art Disneyland des Okkulten verwandelt.

Kate Fox, Direktorin der örtlichen Tourismusbehörde, betrachtet das mit einem lachenden und einem weinenden Auge: "Wir begrüßen jährlich eine Million Besucher, 70 Prozent davon kommen nur wegen der Hexenthematik", sagt sie. Und bedauert zwar, dass viele die historischen Hintergründe ausblenden, weiß aber genau, dass es die Sensationslust und der Spaßfaktor sind, die Besucher aus aller Welt anlocken.

Eines des sechs Hexenmuseen der Stadt.
Foto: Salem Witch Museum/Courtesy Photo

Da erscheint es wenig verwunderlich, dass selbst offizielle Stellen in Salem einen recht unbekümmerten Umgang mit der delikaten Vergangenheit pflegen: Die Volksschule wurde Witchcraft Heights Elementary getauft, das Footballteam der Highschool nennt sich stolz The Witches und hat eine Hexe als Logo, ein halbes Dutzend Hexenmuseen wurde mittlerweile eröffnet.

Im Schneidersitz

Um wieder ein wenig Frieden auf den Friedhof zu bringen, hat man bereits Verbotsschilder aufgestellt: "Kein Aufenthalt nach 18 Uhr!" oder "Das Berühren der Grabsteine ist verboten!" Doch die Mahnungen scheinen nicht alle zu beeindrucken. Im Schneidersitz, mit geschlossenen Augen und Kopfhörern verharrt eine junge Frau auf einem der Grabsteine. Die lachenden und Selfies schießenden Touristen um sie herum scheinen sie nicht zu stören.

"Das ist mein Lieblingsplatz", sagt Lynn Haley und streicht sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. Fast täglich verbringt die 34-Jährige hier ihre Mittagspause. "An diesem Ort tanke ich Kraft", erklärt Lynn, während sie liebevoll den rauen Granit des Grabsteins streichelt. Zwar sind dunkle Kleidung, schwarze Haare und Tätowierungen in Salem kein Alleinstellungsmerkmal, dennoch will sie damit ein Signal aussenden: Lynn bezeichnet sich selbst als Hexe.

Haunted Happenings: Zu Halloween haben Hexen & Co Hochsaison in Salem.
Foto: Patrick Cornelissen

"Zu Hause war es oft schwierig. Ich wurde begafft und als Sonderling beschimpft", erzählt die junge Frau. Selbst von ihren Eltern habe sie sich oft missverstanden gefühlt. Hier sei alles anders: "Irgendwie normal, und es fühlt sich richtig an." Dies sei auch der Hauptgrund, warum sie vor knapp zwei Jahren von der West- an die Ostküste nach Salem zog, sich eine Zweizimmerwohnung suchte und ihren Lebensunterhalt als Servicekraft verdient. "Viel bleibt von dem kleinen Gehalt nicht übrig", verrät Lynn. Aber die Nähe zu diesem Platz und der Kontakt mit Gleichgesinnten würden ihre finanzielle Lage aufwiegen. Und Geistesverwandte finden sich in Salem genug.

Abergläubische Wähler

Rund 4.000 selbsternannte Hexen, Hohepriester und andere bekennende Abergläubische leben in der Stadt. Das sind fast zehn Prozent der Bevölkerung. Wer in Salem Wahlen gewinnen will, darf diese Gruppe nicht außer Acht lassen, hört man aus dem Büro der Bürgermeisterin. Auch die örtliche Polizei drückt schon mal ein Auge zu, wenn jemand wie Lynn friedlich auf einem der Grabsteine sitzt, ohne diesen zu beschädigen. Außerdem: Was sollte eine Hexe von einem Ordnungshüter in Salem schon zu befürchten haben, auf dessen Uniform ebenfalls ein Hexenlogo prangt?

Der esoterische Rummel sorgt mächtig für Umsatz in der Stadt. Zahllose Geschäfte haben sich auf das Thema Okkultismus spezialisiert und bieten den passenden Kitsch an. Da und dort kann man an Spukführungen teilnehmen, einen Blick in die Zukunft riskieren oder den Kontakt zu Verstorbenen herstellen lassen – zumindest, wenn man auf die Fähigkeiten von Susan Morgan vertraut: "Bereits meine Großmutter hatte diese besondere Energie und konnte aus Teeblättern lesen", erzählt die 56-jährige selbsternannte Schamanin.

Selbstverständlich kann man sich in Salem auch die Zukunft vorhersagen lassen.
Foto: Jared Charney

Im Oktober gibt Morgan "Nachwuchshexen" Unterricht im Geschäft der befreundeten Hohepriesterin Lori Bruno. Bruno hat sogar eine eigene Kirche gegründet, ihre Anhänger pilgern aus der ganzen Welt nach Salem, um sie zu kontaktieren – das geht auch ganz neumodisch über Facebook statt über eine Glaskugel. Morgan geht ebenfalls mit der Zeit. "Ich kann den Menschen auch per Handy aus Teeblättern lesen. Das funktioniert genauso gut, als würden sie mir direkt gegenübersitzen", sagt die Mutter von drei Kindern, die nicht alle ihre Passion teilen, wie sie unverblümt einräumt. Der Unterschied zwischen einem persönlichen Gespräch und einem raschen Telefonat besteht letztlich im Preis. Doch selbst für Sparfüchse, die nicht einmal zum Handy greifen wollen, hat Morgan ein Angebot: die Zukunftsvorhersage-Flatrate für Gruppen ab 15 Leuten.

Mystische Schwärmerei

Salem sei ein hervorragendes Pflaster für Okkultismus, stellt Morgan abschließend fest. Und meint damit nicht nur Dienstleistungen dieser Art oder die oft spendierfreudige Kundschaft. "Die Kombination aus unserer realen Geschichte und dem zeitgemäßen Umgang damit macht Salem so einzigartig mystisch", schwärmt sie. Das müsse man einfach einmal erlebt haben, gerade jetzt, wenn der Höhepunkt naht.

Abseits des Hexentrubels hat Salem vor allem ein reiches maritimes Erbe zu bieten.
Foto: Linda. J. Orlomoski

Pünktlich am 31. Oktober, zu Halloween, mutiert die Stadt endgültig zum Hexenkessel. Gefeiert wird mit jeder Menge falscher Warzen, schwarzer Umhänge und Reisigbesen. Natürlich aus einem gut sortierten Fachgeschäft in Salem. (Jens-Martin Trick, Rondo, 9.10.2015)

Salem vermarktet seit langem vermeintliche Hexerei, wie dieses Archivfoto aus dem Jahr 1945 zeigt.

Foto O Corbis / B. Anthony Stewart