Jugendkulturforscher Bernhard Heinzlmaier: "Sich vorbehaltlos an die Arbeit zu klammern kann keine gute Idee sein. Bedachtsame Distanz und emotionale Reserven sind die besseren Ideen."

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Start-ups würden die neue Kultur der ungestümen Füchse repräsentieren, sagt Heinzlmaier.

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STANDARD: Verliert die Erwerbsarbeit in der virtualisierten Gesellschaft langsam ihren Statuscharakter, die Rolle als Fetisch?

Heinzlmaier: Das kann ich nicht sehen. Wir leben in einer arbeitszentrierten Gesellschaft. Da ist das Image der Menschen von ihrer Berufskarriere abhängig. Sich einen attraktiven Job zu besorgen ist heute die wirkungsvollste Verhaltensstrategie, um von der sozialen Umgebung mit einer positiven emotionalen Reaktion belohnt zu werden, um Ansehen und Wertschätzung zu gewinnen.

STANDARD: Also geht der Wettbewerb weiter, ist Teilen noch nicht das neue Besitzen, wenn es um den Platz im Jobgefüge geht ...

Heinzlmaier: Die Positionskämpfe um den richtigen Job und die gehobene Stellung am Arbeitsplatz sind hart und werden in den kommenden Jahren noch härter. Warum? Der Arbeitsmarkt ist ab den mittleren Positionen aufwärts ein Anbietermarkt geworden. Das Personalmanagement großer Unternehmen kann sich also entspannt zurücklehnen und die Masse der Bewerber mit Fachhochschulabschlüssen und Zusatzqualifikationen dabei beobachten, wie sie sich in demutsvollen Anpassungsleistungen überbietet, um zu den "Chosen Few" zu gehören.

Kommen da nicht der bestehende Fachkräftemangel, die Alterung der Gesellschaft, die demografische Kurve ins Spiel und verknappen den Anbietermarkt?

Heinzlmaier: Doch, aber zunächst in den Bereichen, die wir kennen: Technik, Naturwissenschaften. Die Roboterisierung übrigens wird der demografischen Kurve das eine oder andere Schnippchen schlagen. Zigtausende setzen ihren Kampf um das Auserwähltwerden hochmotiviert fort um die besten Positionen in der Betriebshierarchie, nachdem sie erwählt wurden . Die Waffen, die dabei eingesetzt werden, sind symbolische Selbstausbeutung – wer schafft die meisten Allnighter – oder gezieltes Networking, eine Aktivität, die man früher einmal mit Begriffen wie Kabale, hinterhältige List oder Konspiration bezeichnet hat.

STANDARD: Aber da machen doch nicht alle ausnahmslos mit? Weil eben hinterfragt, nach Alternativen gesucht wird...

Heinzlmaier: Es gibt die empörten Weltänderer und Moralisten, ja. Und es gibt auch welche, die suchen sich ruhige Jobs, bei denen sie nicht im Übermaß gefordert sind, damit sie ihre Energien für die Freizeit aufsparen können.

Und dann wäre da ja noch die neue Generation – Generation Y genannt –, die angeblich alles ändert, über den Haufen wirft.

Heinzlmaier: Ja, wir nennen sie in unseren Studien die digitalen Individualisten, die Elite der Arbeitsmärkte der Zukunft: selbstbewusst, auf Ungebundenheit bedacht, zu Hause in den Domänen des Flüchtigen, Oberflächlichen, des Vorübergehenden, des Spielerischen. Diese Interessen befriedigen sie in ihrem häufigen Engagement in Start-ups, die ja gegründet werden, um sie wieder zu beenden – durch gewinnbringenden Verkauf an ein marktbeherrschendes Monopolunternehmen. Nur wer das Wesen der Start-up-Kultur versteht, kann auch die Generation Y verstehen. Ein theoretisches Hilfsmittel liefert uns dafür der italienische Soziologe Pareto. Er unterscheidet unter den Eliten einer Gesellschaft zwischen Titelträgern und Herausforderern. Die Titelträger nennt er Löwen, die Herausforderer Füchse. Löwen sind die Etablierten, die Partei der Privilegierten, die über die bestehende Ordnung wachen und diese prolongieren wollen, weil sie die größten Profiteure sind.

STANDARD: Da sind doch Füchse, die auf alte Werte pfeifen und an den Sesseln sägen, gut und notwendig als Herausforderung und Weiterentwicklung!

Heinzlmaier: Start-ups repräsentieren diese neue Kultur der ungestümen Füchse, die die alte Elite, die behäbig satten Karrieristen, von ihren Positionen verdrängen wollen. Aber es gibt dabei eines zu bedenken: Wenn die Füchse die alten Löwen verdrängt haben und selbst zur führenden Elite geworden sind, dann verwandeln sie sich (ganz gegen die Natur) flugs in das, was sie so lange wütend bekämpft haben: in Löwen.

STANDARD: Nur ein Machtkampf alter und neuer Eliten ohne Wirksamkeit für das Gesamtgefüge?

Heinzlmaier: Die Mittelschicht hat davon genauso wenig wie die Selbstverwirklicher. Sie bleiben wie bisher subaltern. Das Einzige, was sie bekommen, sind neue Herren.

STANDARD: Nun zum größeren Ganzen: In Ihrem aktuellen Buch "Verleitung zur Unruhe" schreiben Sie, Arbeit und Genuss seien die beiden Gewichte, die Menschen nach unten zögen, die "sie am Boden der Realität einer immer inhumaner werdenden Leistungsgesellschaft festhalten". Die terminale Negativbilanz?

Heinzlmaier: Das sind nun mal die Kräfte, die uns gefühllos machen unseren wahren Bedürfnissen gegenüber und die uns stumm machen, wenn es um Aufbegehren gegen Unrecht und Unmenschlichkeit geht. Zu diesen uns immer mehr vereinnahmenden Ungeheuern müssen wir auf Distanz gehen.

STANDARD: Warum zum Genuss? Was stellt denn der an?

Heinzlmaier: Es geht um den Genuss als das Produkt der Ästhetisierung der Gesellschaft, in der alles und jedes in den Zustand der Genießbarkeit versetzt wird. Um die Menschen ja nicht anzustrengen und konsumwillig zu halten, wird alles unternommen: ästhetisiert, aufpoliert. Der schöne Schein soll perfekt die Konflikte und Widersprüchlichkeiten des menschlichen Seins verdecken. Wir sollen eine Genussgesellschaft sein. Hässlichkeit, Disharmonie und Kritik sind vollkommen unerwünscht. Jeder soll seinen täglichen Genuss finden, und wenn er das nicht kann, gerät er unter Rechtfertigungsdruck, wird gar als "krank" weil "genussunfähig" abgestempelt. Genusspflicht ist oberster Imperativ.

STANDARD: Warum sind dann Depressionen so verbreitet?

Heinzlmaier: Wir sind an einem Punkt angekommen, wo viele, vor allem auch junge Menschen, dieses Genießen nicht mehr genießen können. Vielmehr schlägt das, was Pflicht geworden ist, in sein Gegenteil um: in Depression. Der Engländer Marc Fisher spricht davon, dass die europäische Jugend heute mehrheitlich in einem Zustand ist, den er depressive Hedonie nennt. Entsprungen der Unfähigkeit, irgendein Ziel außerhalb des Genießens verfolgen zu können. Ein kleines Lüstchen muss das nächste jagen, die hinterlassene Lücke muss sofort wieder gefüllt werden. Weil man nicht aufhören darf zu genießen und weil die Alternativen wie Meditation, Kontemplation, Reflexion nicht mehr zugänglich sind, wird immer lustloser vor sich hin genossen. Es sind riesige Heere von Gejagten entstanden – gejagt von ihrer Unfähigkeit, Ruhe, Stille und Ereignislosigkeit zu genießen.

STANDARD: Wie geht das, praktisch, ohne auszusteigen, auf Distanz zu den beiden Ungeheuern Arbeit und Genuss zu gehen?

Heinzlmaier: Ich empfehle Michel de Montaigne, der uns gute Hinweise gibt: Sich bei allen Beziehungen, ob geschäftlich oder privat, Arbeit oder Genuss betreffend, immer ein emotionales, eventuell auch ein materielles Hinterzimmer offenzuhalten, sich selbst Rückzugsmöglichkeiten zu geben. Sich vorbehaltlos an die Arbeit zu klammern, kann keine gute Idee sein – das liefert einen vollkommen den Verhältnissen aus, unter denen zu leben man sich letztlich gezwungen sieht. Bedachtsame Distanz und emotionale Reserven sind die bessere Idee. (Karin Bauer, 13.10.2015)