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Autorin Zeruya Shalev verarbeitet in "Schmerz" höchst eindringlich eigene Erfahrungen im Lichte von Gewalt und Terror.

Foto: Valat/APA

Wien – "Schmerz" gehört für die Schuldirektorin Iris zum täglichen Brot. Vor zehn Jahren wurde sie bei einem Terrorattentat in Jerusalem schwer verletzt. Heute verwaltet die Mittvierzigerin ein kleines, betulich verwaltetes Glück. Die Mitgift des Anschlags trägt sie in der Form einer Platinprothese in der Hüfte. Die Ehe mit Micki, ihrem verschlossenen Mann, köchelt auf lauer Temperatur. Die Schlafzimmer in der schicken Jerusalemer Wohnung sind getrennt. Den Kindern hilft man mit liberaler Fürsorge schlecht und recht beim Flüggewerden.

Und doch trennt eine unsichtbare Wand Iris von ihrer Umwelt. Jeder Blick in die Vergangenheit enthüllt ein ganzes Bündel von Verlustgefühlen und nagenden Ängsten. Die Romane der israelischen Bestsellerautorin Zeruya Shalev (56) gleichen Bestandsaufnahmen. Gefragt wird aus strikt weiblicher Perspektive nach den Bedingungen dessen, was man ein "geglücktes Leben" nennt.

Shalev, so lässt sich mit Blick auf Bücher wie "Späte Familie" oder "Mann und Frau" sagen, baut das monumentale Projekt Marcel Prousts, die "Suche nach der verlorenen Zeit", mit anderen, wiewohl bescheideneren Mitteln nach. Indem sich die Autorin in das Ich von Iris verkriecht, wird die Übermacht der Vergangenheit über die Gegenwart mit erschreckender Deutlichkeit offenbar.

Iris registriert nicht so sehr ihre Umwelt, sondern sie tastet sie daraufhin ab, wo Leerstellen zu finden sind. Häufig droht die Erinnerungsflut sie aus dem schützenden Kokon des Lebens fortzureißen. Nicht immer ist klar, ob ihr die Früchte ihrer Einbildungskraft einfach in den Schoß fallen oder ob der Kult der Vergangenheit, den sie treibt, als Spätfolge des Attentats anzusehen ist.

Was Shalev schildert, ist nicht nur unter israelischen Gesichtspunkten ein Syndrom der Wohlstandsangst. Auch die Autorin, Tochter eines Bibelforschers, war einst von einem Bombenattentat mitbetroffen.

Schwer fassbare Zeichen

Der Roman "Schmerz" stellt daher die erzählerische Frage, wie "normal" sich das Leben in einer Gesellschaft anfühlt, der die Vernichtung physisch angedroht ist. Unwillkürlich durchsetzen Partikel der Angst noch die privatesten Regungen. Einen Ausweg gibt es nicht. Ausgerechnet die Anrufung der Vergangenheit gewährt nicht den geringsten Schutz.

Shalevs Kunstanstrengung ist gewaltig. Mit erschütternder Beharrlichkeit übersetzt sie die schwer fassbaren Zeichen der Gefahr in eine Sprache der Intimität. Gemeint ist natürlich die Liebe. Iris trifft ihre große Leidenschaft Eitan wieder. Aus dem Muttersöhnchen von damals, der meinte, ihr nicht gewachsen zu sein, und sich daher aus dem Staub machte, ist ein grauer, hagerer Palliativmediziner geworden. Instinktiv glaubt Iris, ein Recht auf die Vervollständigung ihres verlorenen Glücks zu besitzen.

Kurz, ganz kurz nur, dockt Shalev an das Muster des Trivialromans an. Allzu lange kann sich ihre Hauptfigur nicht ihren Tagträumen hingeben, diesem fast kitschigen Bibelton, der von zärtlichen Umarmungen im Schatten von Maulbeerbäumen handelt.

Iris muss sich an den Erfordernissen des Tages messen lassen. Ihre Tochter Alma, die in Tel Aviv kellnert, ist in die Fänge eines Psycho-Gurus geraten. Vorsichtig bemüht sich die Mutter um die Wiedergewinnung des Problemkindes. Eitan, diese Reminiszenz an die schöneren Hoffnungen von einst, spielt nicht mehr die erste Geige. Mehr noch: Für ihn ist im Licht eines verantwortlich gelebten Lebens kein Platz mehr. Sein Name auf Iris' Smartphone ist "Schmerz". Wer sich durch die vielen Hauptsatzreihen Zeruya Shalevs hindurchgearbeitet hat, wird seine Bewunderung für dieses Buch nicht verhehlen können. (Ronald Pohl, 14.10.2015)