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TTIP mobilisiert die Massen: Am vergangenen Wochenende demonstrierten zehntausende Menschen in Berlin gegen den transatlantischen Pakt. Auch in Österreich gibt es viel Gegenwind.

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"Die Konzerne wollen das Abkommen, aber jeder möchte die eigenen Regeln behalten", sagt der ehemalige Nafta-Verhandler Pierre Sauvé.

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STANDARD: Nach jahrelangem Stillstand wird plötzlich ein Freihandelsabkommen nach dem anderen verhandelt und abgeschlossen. Wie kommt das?

Sauvé: Es gibt nicht den einen Grund dafür, dass die Handelsdiplomatie so in Schwung gekommen ist. Hinter dem transatlantischen Abkommen TTIP, das meiner Meinung nach dem Untergang geweiht ist und nie Realität werden wird, steckt ein nostalgisches Bedürfnis. Die USA und Europa sehnen sich zurück in die Zeit, als alles, was man gemeinsam ausverhandelt hat, automatisch zur globalen Norm geworden ist. Jetzt fürchten beide, dass China zu viel mitmischt und selbst die Regeln macht. Deshalb versuchen sie mit TTIP den globalen Standard zu entwickeln. Ein anderer Grund ist, dass die Welthandelsorganisation WTO für ein bankrottes System steht.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Sauvé: Die WTO ist zu demokratisch. Jedes der 161 Mitgliedsländer muss zustimmen, wann immer ein neuer WTO-Vertrag ausgearbeitet wird. Nur klappt das nie, weil so unterschiedliche Länder wie die USA und Dschibuti in einem Raum sitzen. Deshalb wenden sich Staaten vom Multilateralismus ab. Gefragt sind regionale Abkommen, was logisch erscheint.

STANDARD: Warum?

Sauvé: Der Welthandel hat sich grundlegend verändert. Während früher vor allem mit Fertigprodukten gehandelt wurde, bestehen heute 70 Prozent des Welthandels aus der Verschiffung von Einzelteilen, Komponenten. Es haben sich regionale Wertschöpfungsketten gebildet, in Asien, Südamerika, Europa. Die Mercedes-Bosse fragen heute nicht mehr: Sollen wir ein Werk in Brasilien oder Malaysia bauen? Sie überlegen sich, ob sie Brasilien oder Argentinien nehmen. Diese Regionalisierung verlangt aber nach Regeln, nach Ordnung.

STANDARD: Ist das der Grund dafür, dass die USA soeben mit elf anderen Pazifikanrainerstaaten das bisher weltgrößte Freihandelsabkommen, TPP, geschlossen haben?

Sauvé: Das ist einer der Gründe. Das Pazifikabkommen ist der Versuch, die US-Wirtschaftsbeziehungen in der Region mit einem Schlag zu vertiefen. Die USA hatten bisher kein Freihandelsabkommen mit Japan, keines mit Malaysia und keines mit Vietnam. Das bekommen sie nun alles auf einmal. Damit wollen die Vereinigten Staaten zugleich Chinas Einfluss in diesen Ländern eindämmen, sie bauen einen wirtschaftlichen Schutzwall auf. Andere Länder wie Japan und Mexiko haben sich TPP nach Beginn der Verhandlungen angeschlossen, weil sie Angst bekommen haben, dass ihre Unternehmen außen vor bleiben. Da ist eine Karawane entstanden. Wobei es beim Pazifikabkommen noch einen interessanten Aspekt gibt.

STANDARD: Welchen?

Sauvé: Der Vertrag ist ein Mittel geworden, um das Nordamerikanische Freihandelsabkommen Nafta zu revidieren. Alle drei Nafta-Länder, die USA, Kanada und Mexiko, sind bei TPP dabei. Nafta ist 20 Jahre alt, und die drei Länder haben Zölle gegenseitig wie vereinbart eliminiert. Aber das Pazifikabkommen TPP geht da viel weiter, etwa bei den Regelungen für Betriebe im Staatseigentum, es werden auch mehr Dienstleistungen liberalisiert.

STANDARD: In den USA gibt es großen Widerstand gegen das Pazifikabkommen. Glauben Sie, es wird je vom Kongress angenommen?

Sauvé: Die Dynamik ist schwer einschätzbar. Die Amtszeit von US-Präsident Barack Obama geht zu Ende. Bisher ist nicht erkennbar, woraus sein wirtschaftspolitischer Nachlass im Welthandel bestehen soll. Deshalb hat seine Regierung verzweifelt darum gekämpft, das Pazifikabkommen auszuhandeln. Das haben die übrigen Länder ausgenutzt. Die USA mussten sich flexibel zeigen. Sie öffnen ihre Märkte für Molkereiprodukte, darauf hat Neuseeland gedrängt. Sie haben im Streit mit Australien über Biopatente nachgegeben. Das ist für die Pharmabranche wichtig. Die USA gewähren Firmen, die eine biologische Substanz entdecken, zwölf Jahre Exklusivität für die Datennutzung. Das hält Generikaproduzenten davon ab, Medikamente rasch nachzuproduzieren. Für Australien war das nicht akzeptabel, sie haben auf den international üblichen fünfjährigen Schutz bei Biopatenten gedrängt und sich durchgesetzt.

STANDARD: Die USA müssen ihre Gesetze ändern?

Sauvé: Ja, das ist etwas Unübliches. Senator Orrin Hatch, der den Bundesstaat Utah vertritt, hat bereits gesagt, dass er TPP nicht akzeptieren wird. Warum? Weil in Utah viele Pharmagiganten sitzen. Auch Ford und damit der Bundesstaat Michigan sind unglücklich über TPP. Selbst die mögliche Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton ist inzwischen gegen das Abkommen, weil sie die Gewerkschaften nicht vergraulen will. Dabei hat sie die strategische Hinwendung der USA in Richtung Asien in ihrer Amtszeit als Außenministerin mitentwickelt. Es gibt also quer durch beide Parteien Widerstände, es wird ein harter politischer Kampf.

STANDARD: Wo Sie aber sicher scheinen, ist, dass TTIP scheitert. Warum eigentlich?

Sauvé: Die USA und die EU sind beide offene Wirtschaftsräume. Es gibt kaum Importzölle. Investoren aus dem Ausland sind willkommen. Die wirklichen Handelsbarrieren bestehen aus den unterschiedlichen Produktstandards: Die Regeln für die Zulassung von Autos, Kosmetika und Chemikalien sind völlig verschieden. Ist es möglich, diese Vorschriften im Rahmen eines Freihandelspakts zu harmonisieren? Nein. Da bin ich mir sicher. Auf praktischer Ebene ist die Herausforderung zu groß: Man muss sich zum Beispiel über jede einzelne Chemikalie, die in einen Lippenstift darf, einig werden. Es geht um tausende Produkte. Hinzu kommt ein politischer Grund: Da verhandeln zwei Hegemonen miteinander, die nicht gewohnt sind, Kompromisse zu schließen. Die USA und die EU sind wie zwei stolze Gorillas. Zugleich stecken hinter den abertausenden unterschiedlichen Produktnormen konkrete Interessen, die niemand aufgeben will.

STANDARD: Die EU-Kommission würde einwerfen, dass die europäische Automobil-, Chemie und Metallindustrien TTIP doch wollen.

Sauvé: Die Konzerne wollen das Abkommen, aber jeder möchte die eigenen Regeln behalten. Das wird nicht klappen. Das gilt auch für Behörden: Ein BMW ist genauso sicher wie ein Chevrolet. Aber die Tests, die die Sicherheit dieser Autos beweisen sollen, sind völlig anders. Warum? Weil man viel Geld mit Pkw-Prüfungen verdienen kann, es gibt da einen ganzen Industriezweig. Das gilt für viele Bereiche. Und ganz ehrlich: Nach dem Volkswagen-Skandal ist die Glaubwürdigkeit der EU-Aufseher auf null gesunken. Eine US-NGO hat die Betrügereien bei VW aufgedeckt. Je mehr wir über den Skandal erfahren, umso offensichtlicher wird, dass man in Europa länger gewusst hat, dass es Unregelmäßigkeiten gibt. Aber aus politischen Gründen ist niemand eingeschritten. Der VW-Skandal ist also ein schwerer Schlag für TTIP, weil er das notwendige Vertrauen zwischen den Aufsehern zerstört hat.

STANDARD: Dabei gibt sich die EU-Kommission große Mühe, TTIP zu retten. So hat man sich ein ganz neues System überlegt, um Investitionsstreitereien beizulegen.

Sauvé: Ja, das die USA mit Sicherheit ablehnen werden.

STANDARD: Dabei klingen die europäischen Ideen vernünftig. Die EU will, dass fix berufene Richter über Konzernklagen gegen Staaten entscheiden: Ein internationaler Handelsgerichtshof soll her.

Sauvé: Das ist alles sehr weit weg von der Art und Weise, wie die USA ihre Investitionsstreitereien bisher beigelegt haben. Ein fixes Gericht würde bedeuten, dass nicht mehr Anwälte ad hoc als Schiedsrichter bestellt werden. Investitionsgerichtsbarkeit ist eine immens profitable Nische. Die Juristenbranche, besonders in den USA, wird erbitterten Widerstand dagegen leisten, sie zu verlieren. Das dürfte ein weiterer Sargnagel für TTIP werden. Ohne Investitionsschutz wollen die USA den Vertrag nicht. US-Konzerne haben kein Problem damit, in Deutschland oder Österreich vor einem nationalen Gericht zu klagen. In Rumänien und Bulgarien ist das anders. (András Szigetvari, 15.10.2015)