In Dänemark wurde Menschen mit Magengeschwüren der Vagusnerv – ein Darm-Hirn-Vermittler – durchtrennt. Eine Studie zeigte, dass diese Menschen um fünfzig Prozent seltener Parkinson bekommen, berichtet der Neurologe.

Foto: John F. Cryan

Cryan und seine Kollegen haben herausgefunden, dass bei Menschen mit traumatischen Kindheitserfahrungen die Zusammensetzung der Darmbakterien anders ist als bei Menschen ohne solche Erfahrungen. Psychischer Stress manifestiert sich demnach auch im Darm.

Foto: Heribert CORN / www.corn.at

STANDARD: Sprachlich gibt es diese Verknüpfung längst: Man hat Schmetterlinge im Bauch, ein emotional aufwühlender Vorfall schlägt einem auf den Magen. Welche Verbindung besteht tatsächlich zwischen Darm und Hirn?

John Cryan: Gefühlt wissen wir seit langer Zeit, dass es hier einen Zusammenhang gibt. Vor rund zehn Jahren haben wir herausgefunden, dass der Schlüssel die Darmbakterien und deren Zusammensetzung sind. Sie haben Einfluss auf sämtliche Aspekte unserer Gesundheit – nicht nur auf den Magen-Darm-Trakt, sondern etwa auch auf unser Herzkreislaufsystem. Als Neurowissenschaftler interessiert mich besonders unser Gehirn. Heute kann ich sagen: Unsere Darmbakterien beeinflussen, wie es uns geht und wie wir uns verhalten.

STANDARD: Das müssen Sie genauer erklären.

Cryan: Wir haben das vorerst an Mäusen getestet. Wir ließen sie in einer sterilen Umgebung aufwachsen, sodass sie keine Darmbakterien hatten. Gleich erste Ergebnisse zeigten, dass deren Gehirne sich nicht normal entwickelten. Besonders betroffen waren die Teile des Gehirns, die aktiv sind, wenn man Angst hat. Auch ihr Verhalten war anders als das von Vergleichsmäusen – die keimfreien Tiere hatten ein dauerhaft erhöhtes Stresslevel. Diese Versuche lassen sich natürlich so nicht mit Menschen durchführen.

STANDARD: Woher wissen Sie dann, dass sich diese Ergebnisse auf den Menschen übertragen lassen?

Cryan: Es ist erwiesen, dass Menschen mit traumatischen Erlebnissen in der Kindheit mit größerer Wahrscheinlichkeit in ihrem weiteren Leben psychisch erkranken. Wir haben herausgefunden, dass bei diesen Menschen auch die Zusammensetzung der Darmbakterien anders ist als bei Menschen ohne solche Erfahrungen. Man kann also im Darm ablesen, ob man in seinem frühen Leben psychischem Stress ausgesetzt war. Bei Mäusen funktioniert das auch nachweislich umgekehrt: Nimmt man ihnen die Bakterien, leiden sie an Dauerstress. Hier kommt die Ernährung ins Spiel.

STANDARD: Wollen Sie damit sagen, dass man mit richtiger Ernährung Stress verhindern kann?

Cryan: Wir haben Tieren gewisse Lactobakterien gefüttert, und sie haben auf Stress weniger intensiv reagiert – sie verhielten sich, als wären sie auf Valium. Auch im Gehirn war die Veränderung nachweisbar. Eine Forschergruppe in Kalifornien hat kürzlich ein vergleichbares Experiment mit Menschen durchgeführt. Man hat Frauen ein fermentiertes Getränk mit bestimmten Probiotika und Lactobakterien verabreicht. Sie konnten in den gleichen Bereichen eine veränderte Gehirnaktivität feststellen. Wir testen nun auch die positiven Effekte gewisser Bakterien auf den Menschen.

STANDARD: Können also alle Stressgeplagten vorsorglich schon einmal mehr Joghurt essen?

Cryan: Die meisten Laktobakterien haben keine Auswirkungen auf Hirn oder Verhalten. Es gibt spezifische Arten, die einen Effekt haben. Das ist aber auch sehr individuell. Es gibt Bakterien, die bei dem einen wirken, bei dem anderen nicht. Wir haben noch keine Beweise, dass ein im Supermarkt erhältliches Joghurt Depressionen oder Stress mindert. Das bedeutet aber nicht, dass es tatsächlich keines tut. Da müssen wir einfach noch weiter forschen.

STANDARD: Sicher ist, dass eine Verbindung zwischen Darm und Hirn besteht. Wie kann man sich das biologisch vorstellen?

Cryan: Es gibt einen Nerv, den Vagus, er sendet Signale vom Gehirn in alle Regionen des Körpers. Wir konnten mit Tierversuchen zeigen: Schneidet man den durch, reagieren die Mäuse nicht mehr auf die Darmbakterien, die wir ihnen zuführen. Er spielt also eine zentrale Rolle.

STANDARD: Könnte falsche Ernährung auch schlechte Signale vom Darm ins Hirn leiten?

Cryan: Bis in die Achtzigerjahre wurde in Dänemark Menschen mit Magengeschwüren der Vagusnerv durchtrennt. Ein großer Teil der Bevölkerung dort lebt also ohne diesen Darm-Hirn-Vermittler. Eine Studie zeigt, dass diese Menschen um fünfzig Prozent seltener Parkinson bekommen. Das sagt uns: Es gibt wohl auch Signale, die vom Darm ins Gehirn geleitet werden, die schlecht für uns sein können.

STANDARD: Ihre Forschung zeigt, dass Mäuse ohne Darmbakterien weniger sozialfähig sind. Sitzt unsere soziale Ader also möglicherweise in der Verdauung?

Cryan: Sie spielt zumindest eine Rolle. Die sozialen Effekte waren seltsamerweise wesentlich stärker bei Männchen zu beobachten. Mäuse sind grundsätzlich soziale Wesen, für unsere keimfreien Tiere machte es aber keinen Unterschied mehr, ob sie von anderen Mäusen oder bloß Dingen umgeben waren.

STANDARD: Haben Sie dafür eine Erklärung?

Cryan: Bakterien waren da, lange bevor das menschliche Gehirn zu dem wurde, was es heute ist. Sie hatten einen wesentlichen Einfluss auf unsere Gehirnentwicklung und auch darauf, dass wir soziale Wesen wurden. Denn davon profitieren die Bakterien: In Sozialgefügen können sie sich wesentlich einfacher vermehren. Im Grunde sind wir die Marionetten unserer Darmbakterien.

STANDARD: Unsere Ernährung spielt also eine wesentliche Rolle für unsere psychische Gesundheit?

Cryan: Absolut. Es wird wohl nicht ein einfacher Joghurtdrink Depressionen heilen, aber vermutlich ist es so, dass eine Veränderung der Zusammensetzung unserer Darmbakterien auch zu Verhaltensänderungen führt.

STANDARD: Was kann man denn nun getrost essen für die eigene Psychogesundheit?

Cryan: Studien aus Afrika zeigen: Das westliche Leben hat unser Repertoire an Darmbakterien verringert. Ein wesentlicher Faktor sind also Fertiggerichte. Auch Süßstoffe ruinieren nachweislich den Darm. Man sollte so vielseitig und ausgewogen essen wie möglich. Grünes Gemüse und Getreide sind gut, am wichtigsten ist es aber, frisch zu kochen. Ein britischer Forscher ließ seinen Sohn zehn Tage lang bei McDonalds essen. Das Ergebnis war, dass die Vielfalt der Darmbakterien deutlich abnahm. Fast Food sollte man also auch deshalb meiden, um der Psyche nicht zu schaden. Auch Antibiotika, die ja die Darmflora angreifen, könnten psychische Krankheiten hervorrufen.

STANDARD: Welche Lehren sollte die Medizin daraus ziehen?

Cryan: Da wird sich eine große Industrie bilden in den kommenden fünf Jahren. Ich bin davon überzeugt, dass Menschen künftig – wie ihre Blutwerte – auch ihre Darmflora regelmäßig überprüfen lassen. (Katharina Mittelstaedt, 17.10.2015)