Karl Sigmund 2015: Der Spieltheoretiker, Hochschullehrer, Wissenschaftshistoriker und Ausstellungsmacher wird mit einer großen Tagung am Mathematik-Department geehrt.

Foto: Heribert Corn

Als Mathematiker hätte man ja eigentlich alle Voraussetzungen, mobil zu sein. "Man braucht für die Arbeit nur Papier, Bleistift und natürlich sein Hirn zum Nachdenken", scherzt Karl Sigmund über seinen Berufsstand. Wirklich ausgekostet hat das der Mann mit dem markanten Schnurrbart aber nur in ganz jungen Jahren. Da war er etwa am Institut des Hautes Études Scientifiques (IHES) in der Nähe von Paris und an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Mit doch verhältnismäßig jungen 29 Jahren wurde er ordentlicher Professor für Mathematik an der Universität Wien – und blieb der Alma Mater bis heute treu. Damit war es vorbei mit der Mobilität der Mathematik, könnte man meinen. "Die Berufung war ein absoluter Glücksfall", sagt er heute. Ein zweiter Glücksfall geht übrigens auf das gleiche Jahr zurück: Sigmund heiratete die Historikerin und Autorin Anna Sigmund. Über sie und den gemeinsamen Sohn Willi sagte er nur: "Wirklich außergewöhnliche Menschen."

So verwurzelt er in all diesen Jahren in Wien auch war: Sigmund blieb geistig äußerst beweglich. Eine Eigenschaft, die von seiner Wissenschaft natürlich gefördert wird, weil viele Methoden und Formeln mehrere Anwendungsmöglichkeiten finden. "Das hat mich immer fasziniert: Die Mathematik ist ein Mehrzweckwerkzeug", resümiert er. Und so kam es, dass er sich nach eingehender Beschäftigung mit einem Thema, das manch einen Leser in von Fragezeichen erfülltes Staunen versetzen dürfte, einem neuen, in den 1970er-Jahren geradezu revolutionären Bereich zuwandte: Nach der Ergodentheorie, der Mathematik der statistischen Mechanik, wie Sigmund es erklärt, kam die Biomathematik. Warum der so plötzliche Wechsel des Schwerpunkts innerhalb des Fachs? Sigmund: "Wenn ich mich zu lange mit etwas Bestimmtem beschäftige, dann fällt mir irgendwann einmal nichts Neues mehr ein."

Beispiel Evolutionstheorie

Natürlich gab es auch andere Einflüsse: Der theoretische Chemiker Peter Schuster, später Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), hatte "interessante, für mich damals völlig neue Fragestellungen aufgeworfen". Und musste Sigmund wohl nicht lange überreden, sich ebendiesen zu widmen. "Das war damals eine Sensation, diese Fächer zu verknüpfen. Und bis heute wundern sich viele Menschen, was Biologie und Mathematik miteinander zu tun haben." Dabei würden schon ganz einfache Beispiele aus Charles Darwins Evolutionstheorie beweisen, dass das sehr wohl auf Fakten beruht, sagt Sigmund. "Je schneller sich ein Verhalten kopieren lässt, desto häufiger wird es", erklärt er.

Eine Schlüssellektüre gab es auch: Das egoistische Gen von Richard Dawkins, obwohl die Mathematik darin nur am Rand ein Thema ist. Damit erschloss sich Sigmund ein ganz neues Feld, das damals international erst im Entstehen war: die evolutionäre Spieltheorie. Die Frage, ob in einer Tierart ein Konflikt eskaliert oder nicht, ließ sich doch tatsächlich durch mathematische Modelle beschreiben. Eine Gedankenwelt, die unter anderem in den Arbeiten des theoretischen Biologen John Maynard Smith (1920-2004) ihren Ausgangspunkt hatte, fand in Sigmund einen neugierigen und begeisterten Anhänger.

Bei Null angefangen

Das Wissen darüber eignete er sich freilich ausschließlich durch die Teilnahme an Kongressen oder die Lektüre von Büchern an, denn in Österreich spielte die Spieltheorie in den 1970er- und 1980er-Jahren keine große Rolle. "Da waren vereinzelt Arbeiten an der Universität Wien oder am Institut für Höhere Studien (IHS), aber so etwas wie eine Schule der Spieltheorie gab es damals nicht. Und das, obwohl der gebürtige Österreicher Oskar Morgenstern gemeinsam mit John von Neumann als ihr Begründer gilt."

Ein für die österreichische Nachkriegszeit fast schon typisches Versäumnis: Morgenstern flüchtete 1938 vor den Nazis. Damit wurden die grundlegenden Werke in seiner neuen Heimat, den USA, publiziert und wurden in den Wirtschaftswissenschaften übernommen. Sigmund: "Es ging – verkürzt gesprochen – um Formeln für menschliches Verhalten. Um Interessenkonflikte. Und unter welchen Bedingungen man sich für Konflikt oder Kooperation entscheiden soll."

Indirekte Reziprozität

Erst später kamen dann die Anwendung im Tierreich und die Bedeutung für evolutionstheoretische Überlegungen. Welche Rolle spielt die Kooperation dabei? "Ein Spieler kratzt einen Mitspieler. Dieser kratzt einen weiteren." In der Sprache der Spieltheoretiker nennt man das "indirekte Reziprozität". In diesem Zusammenhang seien noch viele Fragen offen, sagt Sigmund.

Weggefährten und Schüler bezeichnen Karl Sigmund als einen der wichtigsten Vertreter dieser Theorie – und als einen der Mitbegründer einer "Schule", die mittlerweile einige Mathematiker hervorgebracht hat, die an international renommierten Universitäten auf dieser Basis arbeiten: zum Beispiel Martin Nowak und Christian Hilbe, beide an der Harvard University. Sigmund selbst wehrt derlei Beschreibungen entschieden ab. "Peter Schuster und der Mathematiker Josef Hofbauer hätten auch so begonnen, sich damit auseinanderzusetzen." Kurze Pause. "Sagen wir so: Ich war dabei." Er sei mit seinen Arbeiten höchstens auf Hügeln gewesen, "auf den großen Bergen waren andere", sagt er. Wer? John Nash zum Beispiel, der heuer bei einem Autounfall verstorbene Mathematiker, oder Kurt Gödel, der große Logiker, über den Sigmund schon eine umfassende Ausstellung gestaltete. "Es wäre Anmaßung, mich dazuzustellen. Aber man kann die Gipfel auch von unten bewundern."

Was für Sigmund immer sehr wichtig war: die Eins-zu-eins-Beziehung zu Kollegen. "Die hatte auch eine ganz starke emotionale Komponente." Zum Beispiel zu Martin Nowak, der heute ein Freund ist, auf den er bei einem ersten Vortrag über das Gefangenendilemma, einen Klassiker der Spieltheorie, aufmerksam wurde. "Da war im Publikum unter den Studenten ein Kopf, der zu leuchten begann, das war Martin." Wenig später besiegte der Student den Professor mehrfach bei einem Brettspiel. Sigmund: "Von da an wusste ich, dass ich mit ihm arbeiten will." Eine Kooperation entstand, aus der zahlreiche von großen Journals wie Nature publizierte Papers hervorgingen.

Glückliche Zufälle

Dass man sich damals fand und dass Sigmund diese Arbeiten meist mit jungen Mathematikern schrieb, mit denen er gedanklich auf einer Wellenlänge war, bezeichnet er als glücklichen Zufall. Und ergänzt mit einem Augenzwinkern: "Dank ihrer musste ich mich nie mit Computerprogrammen beschäftigen, die heute in der Spieltheorie aber ein wichtiges Werkzeug sind." Zu einer zweiten Methode der Erkenntnisgewinnung fand Sigmund allerdings noch weniger Zugang. "Ich habe an Experimenten teilgenommen, sogar eines geleitet, aber mein Weg war eher das theoretische Gerüst dazu." Eine Gedankenwelt, für die man eben nur Papier und Bleistift braucht.

Sigmund ist also Hochschullehrer und Spieltheoretiker. Da gibt es aber noch einen dritten Beruf, den er seit Jahren verfolgt, den des Wissenschaftshistorikers. Das habe ihn schon als Schüler fasziniert, als er vorerst einmal vor allem für Geometrie eine Leidenschaft einwickelte. "Und ich war vermutlich noch keine 20, als ich beschloss, irgendwann einmal ein Buch über den Wiener Kreis, die philosophische Denkschule der 1920er-Jahre, zu schreiben." Heuer ist es schließlich bei Springer herausgekommen:Sie nannten sich Der Wiener Kreis. Die gleichzeitig gemeinsam mit Friedrich Stadler gestaltete Ausstellung zum Thema läuft noch bis 31. Oktober im Hauptgebäude der Universität Wien.

Hang zur Philosophie

Geistesgrößen wie Moritz Schlick oder Gödel, auch Mitglied des Wiener Kreises, haben es Sigmund eben angetan. Wahrscheinlich hat das auch eine gewisse Logik, denn die Spieltheorie hat eine starke philosophische Komponente. Ein Thema ist dabei häufig: Moral. "Und ich habe auch einen Hang zur Philosophie. Das ist für mich eine wichtige Ergänzung."

Sigmund wird weiterhin der Uni Wien verbunden bleiben. Am Internationalen Institut für angewandte Systemanalyse (IIASA) ist er ja schon seit 1984 nebenbei aktiv. Immer freitags, weswegen ihn die Wissenschafter in Laxenburg nach dem Vorbild von Daniel Dafoes Robinson Crusoe "The Man Friday" nannten.

Eine nächste Idee für ein Projekt zur Wissenschaftsgeschichte gibt es bereits: Sigmund will einen Dokumentarfilm über Albert Einsteins Spuren in Wien drehen. Und ansonsten nicht daran denken, mit der Mathematik aufzuhören. "Das ist ja keine Arbeit, sondern eine Leidenschaft." Nachsatz mit einem Lächeln: "Solange ich nicht gaga bin, werde ich natürlich nicht aufhören nachzudenken." (Peter Illetschko, 29.10.2015)