Selbst Amerikaner halten San Diego für zweite Wahl. Gerade einmal an einem Wochenende im Juli schauen sie auf die südkalifornische Stadt – wenn nämlich auf der Comic Con die neuen Actionfilme, Superheldencomics und Fantasyserien vorgestellt werden. Wer allerdings die wichtigste Messe im Bereich Science-Fiction verpasst, hat keine Idee, wie interessant nicht nur die vorstellbare Zukunft, sondern auch die erhaltene Vergangenheit ist – und wie unterschätzt San Diego.

Die südkalifornische Millionenmetropole gilt als einer der wenigen Orte der Vereinigten Staaten, an dem sich ein Blick zurück lohnt. Auf die Geschichte des Landes, der Stadt, der Menschen. Es gibt gefühlt mehr historische Gebäude, eine gewachsenere Struktur und eine bessere Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr als in Los Angeles. San Diego wird zu Recht die Geburtsstätte Kaliforniens genannt. Trotzdem steht die achtgrößte Stadt der USA im Schatten der Filmmetropole, die 190 Kilometer nördlich die Deutungshoheit über Südkalifornien prägt.

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Der Balboa Park gehört architektonisch zu den interessantesten Vierteln von San Diego ...

Vielleicht liegt es daran, dass die Metropole lange mit sich ringen und auch ihren geografischen Mittelpunkt finden musste. Es gab viele Anfänge, viele lose Enden, die das Knäuel namens San Diego bis heute ausmachen: Missionarsort, Goldgräberstadt, Marinestützpunkt, Surferparadies. Es ist ein Pluspunkt der Stadt, dass sie Teile dieser Vergangenheit stets bewahrt und gepflegt hat. Das war 1542 noch nicht abzusehen.

Eine ganze Museumsmeile

Der Portugiese Juan Rodriguez Cabrillo segelte im Auftrag des spanischen Königs die Küste von Mexiko hinauf, beinahe wäre er an diesem geschützten Ort vorbeigefahren. Das Wasser der Bucht stand niedrig, das Hinterland sah mit den Kakteen und Sträuchern karg aus, was konnte es hier schon zu holen geben? Trotzdem kartografierte er den Ort, reklamierte ihn für Spanien, ließ ihn jedoch nicht besiedeln.

Im San Diego Historic Center – aus gutem Grund nennt sich diese Ansammlung von vier Räumen noch nicht Museum – können Besucher das auf Schautafeln nachlesen. Das kalksteinweiße Gebäude steht im Balboa Park entlang einer ganzen Museumsmeile, das Ensemble ist mit Fassadenornamenten verziert und gebaut vor knapp 100 Jahren – im schönsten Pseudokolonialstil. Man muss sich schon einmal selber zwicken, um sich daran zu erinnern, dass diese Prachtbauten nicht in Kastilien, sondern in Kalifornien stehen.

Langsame Reisen

Nach Cabrillos erstem Anlanden vergingen noch einmal 60 Jahre, bis wieder ein spanischer Segler in der Bucht ankerte. Informationen reisten damals wie die Schiffe, langsam, und so gab Sebastián Vizcaíno diesem Ort den heutigen Namen San Diego – benannt nach seinem Flaggschiff und in der irrigen Annahme, er würde als erster Europäer anlanden. Allerdings konnte auch der Kaufmann seine Mitmenschen nicht bewegen, hier zu leben. Er sprach von mildem Klima, freundlichen Indianern und potenzieller Landwirtschaft. Nichts fruchtete.

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... hier trifft man auf einen Pseudokolonialstil, wie er in Kalifornien einzigartig ist.

Erst 1769 wurde tatsächlich der Außenposten auf einem nahen Hügel gegründet, und die ersten Missionare und Siedler kamen. Presidio heißt der begrünte Hügel heute, er liegt im Norden des Zentrums, ein Park und einige Ruinen erinnern an die Erstbesiedlung der kalifornischen Küste. Der weiße Bau im spanischen Revival-Stil ist wie auch die Museumsmeile in Balboa Park erst 100 Jahre alt. Von hier aus hat der Besucher einen guten Blick über die Stadt, die alten und die neuen Zentren.

Old Town

Am Fuße des Presidio liegt das erste wirklich bedeutende Zentrum der Stadt. Rund um einen rechteckigen, baumbestandenen Rasenplatz ist nach wie vor die Struktur des alten San Diego erhalten – als historische Stätte mit State-Park-Siegel. Sieben und fünf Häuser auf den Längsseiten, drei je auf den Querseiten, erbaut aus Holz oder Stein, weiß gestrichen, wie die Spanier es liebten, oder erdfarben getüncht, wie es die Siedler überall im Wilden Westen bevorzugten.

Das historische Herz der Stadt
Foto: imago/Future Image

Eine Schule, eine Bank, das erste Zeitungsgebäude und der Old Town San Diego Historic State Park vermitteln Touristen einen kompakten Überblick über das Leben Mitte des 19. Jahrhunderts. Der erste Gerichtssaal der Siedlung ist zu bestaunen, ein zwölf Quadratmeter kleiner Raum neben dem Sheriffbüro, in dem vielleicht fünf Menschen Platz hatten. Im Hinterhof steht das provisorische Gefängnis, ein verrosteter Stahlkäfig, der irgendwie an die modernen Kastenskulpturen von Richard Serra erinnert. Ein paar amerikanische Kinder schauen von beiden Seiten durch die Gitter hinein, machen Fotos mit ihren Smartphones, ein aufgekratzter Junge ruft: "Ich bin raus! Ich bin raus!"

Was Besucher gar nicht glauben können: Dieser Ort, bewohnt von ein paar hundert Menschen, lag nicht etwa an der Küste, sondern ein paar Kilometer landeinwärts. Er machte sich den Handel selbst schwer – denn über Land waren die Routen mühsamer als per Schiff. Offensichtlich versprachen sich die ersten Europäer einen besseren Schutz durch das nahe liegende Fort auf dem Hügel.

Am Goldrausch vorbei

Diese Lage war aber auch das Manko des Pueblo, wie es unter der mexikanischen Herrschaft bis 1848 hieß. Zwei Jahre später wurde Kalifornien Bundesstaat der USA – und der Zensus notierte nur 650 Einwohner. Im nördlich gelegenen San Francisco zählte man zur selben Zeit bereits 25.000 Menschen. Der Grund war der Goldrausch, der an der kleinen Stadt im Süden buchstäblich vorüberging. Zwar hielten bis zu 10.000 Mann in San Diego an, um einen Stopp auf ihrer Reise zu den Goldfunden im Norden zu machen, doch kaum jemand wollte bleiben.

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Ironischerweise musste erst ein Mann aus dem Norden kommen, aus eben jenem sagenhaft boomenden San Francisco, um San Diego von seinem Hinterwäldlerdasein zu erlösen. Als der Unternehmer Alonzo Horton 1867 den Ort erblickte, soll er ausgerufen haben: "Der beste Platz, den ich je gesehen habe, um eine Stadt zu errichten!" Damit meinte er die öde Steinwüste, die sich hinter dem Hafen bis zur Siedlung der Old Town erstreckte. Warum dort nicht San Diego neu aufbauen?

Geist der Sturheit

Diese Leere, die Horton sah – man kann sie sich heute kaum vorstellen. Wer eine Hafenrundfahrt unternimmt, erblickt die stolze Skyline der Stadt, die glitzernden Wolkenkratzer, die weißen Schiffe im Wasser und das monströse Convention Center. Weshalb in 300 Jahren kein Siedler den Plan umsetzen konnte, in der Bucht erfolgreich Häuser zu errichten, ist schwer nachvollziehbar.

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Foto: AP/Gregory Bull

Es muss wohl der Geist der Sturheit gewesen sein, den auch die Ortsvorsteher zu Hortons Zeiten pflegten. Zwar verkauften die Bürger gern ihre Ländereien am verlassenen Hafen an Horton, etwas mehr als zwei Quadratkilometer für gerade einmal 265 Dollar, ihren Standort landeinwärts wollten sie jedoch nicht aufgeben. "Ich will eure Stadt nicht mal geschenkt haben", soll Horton daraufhin über Old Town geschimpft haben. Und stampfte New Town aus dem Boden.

Mit dem Ergebnis leben die Einwohner von San Diego bis in die Gegenwart: 16 Blöcke, die als Gaslamp Quarter bekannt wurden. Lagerhäuser, Hotels, Geschäfte und Bordelle etablierten sich, weil der Hafen mit einem Mal Umsatz und Gewinn in die Gegend brachte. Das Gerichtsgebäude zog bereits in den 1870er-Jahren runter in die Neustadt – und ab 1880 war Old Town überholt vom Aufschwung im neuen Zentrum San Diegos.

Zeitreise ins Gaslamp Quarter

Ende des 19. Jahrhunderts entstanden viele der mehrgeschoßigen Ziegelsteinbauten, die Downtown San Diego so schön machen. Unzählige Restaurants und Bars locken jedes Wochenende tausende Vergnügungssüchtige in das Gaslamp Quarter, das wie eine kleine Version des New Yorker Soho-Viertels aussieht: deckenhohe Glasschaufenster, brauner Backstein, schlanke Trägersäulen in den großzügig geschnittenen Lokalen. Zum Glück hat sich die historische Struktur und Bausubstanz fast ausnahmslos erhalten, sodass ein Spaziergang auf der Fifth Avenue eine kleine Zeitreise ist.

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Hollywoodanekdote: Der Fliegerfilm "Top Gun" mit Tom Cruise in der Hauptrolle wurde in und um San Diego gedreht.
Foto: APA/AFP PHOTO/ROSLAN RAHMAN

Alonzo Horton war es übrigens auch, der bereits die Planung von Balboa Park anregte – etwas nördlich von Downtown. Die großzügige Grünanlage liegt zwischen zwei Canyons, eine alte Aquäduktbrücke verbindet die Stadt mit dem Park, in dem sagenhafte 15 Museen und der weltberühmte Zoo mit seinen Pandabären und Koalas liegen. Übrigens all das ist leicht mit Bussen und Straßenbahnen zu erreichen – sodass Touristen nicht wie in Los Angeles auf ein Taxi oder Mietauto angewiesen sind.

Hollywood-Referenzen

Reisende benötigen in San Diego höchstens dann ein Fahrzeug, wenn sie zu den dutzenden Stränden der Stadt möchten. Gegenüber von Downtown liegt Coronado, ein mittlerweile schickes Villenörtchen mit einem berühmten Hotel auf der Pazifikseite. Das Hotel del Coronado, ein schneeweißes Gebäude mit roten Schindeln und einer riesigen Rotunde, diente Billy Wilder als Kulisse für "Manche mögen's heiß". Auf dem Sandstrand vor dem Hotel, wo mittlerweile chinesische Touristen auf Strandläufer treffen, rekelte sich 1958 Marilyn Monroe mit Tony Curtis – in der Komödie lag das Seminole Ritz allerdings in Florida.

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Noch eine Attraktion: Sea World
Foto: Reuters/Mike Blake

Noch eine Hollywoodanekdote: Der Fliegerfilm "Top Gun" mit Tom Cruise in der Hauptrolle wurde in und um San Diego gedreht. Das hatte einen pragmatischen Grund: Im Zweiten Weltkrieg wurde die Stadt zum Militärstützpunkt, Airforce und Navy teilten sich lange die Bucht. Heute ist es nur noch die Navy, die im Hafen präsent ist.

Darauf sind die Einwohner sehr stolz. Jede Show im nahen Themenpark Sea World beginnt mit einer Danksagung an die Truppen. Bevor die Orcas springen, beklatschen die Massen ihre Soldaten. Zu einer sehr patriotischen Musikkulisse, die im gesamten Park zu hören ist. Es gibt viele Gründe, San Diego ins Herz zu schließen, diese Beschallung ist es nicht. (Ulf Lippitz, RONDO, 6.11.2015)