Scheherazade (Crista Alfaiate) an den Schultern ihres Königs: In Miguel Gomes' "1001 Nacht" werden Erzählungen zum Überlebensprinzip.


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Stadtkino Filmverleih
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Wien – Wer sich dumm und verloren vorkommt, gelangt manchmal über Umwege auf die beste Idee. Wie Herman Melvilles berühmter Held Bartleby fasst der Regisseur Miguel Gomes zu Beginn seines Films einen Entschluss: "Ich möchte lieber nicht." Der Versuch, die Krise seines Landes Portugals zu behandeln und zugleich einen Film zu drehen, der die Depression mit fantastischen Mitteln überwindet, das erscheint ihm nicht länger machbar. Was für eine verrückte Idee! Militanz und Realitätsflucht, der Grad an Abstraktion, den ein solcher Schritt voraussetzt, erzeugt bei ihm nur Schwindel. Er ergreift in Panik die Flucht, läuft davon, lässt seine Crew im Stich.

Doch es handelt sich freilich nur um die erste Volte im vielleicht ungewöhnlichsten Film des Jahres. Ein ganzes Jahr lang, von Sommer 2013 bis August 2014, hat Gomes 1001 Nacht (As Mil e Uma Noites) gedreht – das war, nur zur Erinnerung, jenes Jahr, in dem Portugal die harten Sparauflagen der EU auferlegt wurden. Gomes' Zugang ist offen und vielgestaltig zugleich: Eine eigene Crew aus Journalisten hat Geschichten über das Land und sein Volk recherchiert. Manche davon griff man eilig auf, fuhr los und drehte; andere wuchsen sich zu nochmals umfassenderen Episoden aus, blieben mithin nur Anlass für Exkurse, in denen der dokumentarische Ausgangspunkt in eine andere, weiter gefasste Geschichte eingebettet wurde.

Das Bild für diese Arbeitsweise bezieht Gomes aus 1001 Nacht, jener orientalischen Geschichtensammlung, in der das Erzählen zu nichts weniger als einem Überlebensprinzip wird. Jede Nacht erfindet Scheherazade für ihren Gebieter darin eine Geschichte und verlängert ihr Leben um einen Tag. Gomes eignet sich diese Methode an, er steckt bis zum Kopf im Sand und kehrt mit seinem Film jene Denkmuster um, die das sozialrealistische Kino mit seiner Einfühlung in deklassierte Helden schon länger etwas verstaubt wirken lässt. Gewiss, auch 1001 Nacht hat die einfachen Menschen im Blick, aber er sieht in ihnen mehr als ihr Los und ein anderes Prinzip als das der Effizienz, das sie nicht erfüllen können.

Impotente Troika

1001 Nacht besteht insgesamt aus drei Teilen, die mit einer verblüffenden Vielfalt an Formen, Farben und Figuren versuchen, die Austeritätspolitik mit einer Imagination zu kontern, die wiederum im Wirklichen fußt. Im ersten Teil ist es in einer Episode sogar die Troika selbst, die nach Portugal reist und von einem Magier dort ein Elixier gegen ihre männliche Impotenz verabreicht bekommt. Die Dauerständer beulen die Anzughosen der Sparprofis dann aber doch etwas zu unvorteilhaft aus.

Die protestierenden Hafenarbeiter der Werft von Viano do Castelo, die geschlossen wird, sind hingegen ebenso real wie ein Jäger, der mit Flammen gegen die Hornissenplage im Land zu Felde schreitet. Gomes reiht solche vermeintlich disparaten Erzählungen, "faits divers" des Alltags in Portugal, nicht einfach nur aneinander, sondern er lässt sie ineinander übergehen. Daraus entsteht ein Gewebe von Bildern und Tönen, in denen sich eine andere Politik abzeichnet, eine Palette an nur scheinbar überholten Lebensmaximen, die sich nicht leicht auf einen Nenner bringen, schon gar nicht rationalisieren lassen.

Je länger man diesen Filmen folgt, desto reichhaltiger wird die Erfahrung, weil Gomes immer wieder andere Stile adaptiert. Nur so lässt sich die Unordnung der Gegenwart erschließen. Eine Gerichtsverhandlung über eine Mutter und ihren stupiden Sohn, die fremde Möbel in Geld umgesetzt haben, wächst sich zur fantastischen Begegnung aus, bei der selbst perchtenähnliche Wesen zur Verantwortung gezogen werden. Die Richterin verzweifelt. Ein Echo auf die Groteske um einen Hahn, dem im ersten Teil der Prozess gemacht wird, weil er zu früh zu krähen pflegte. Er wird dann fast zum Bürgermeister gewählt, weil seine Renitenz mehr als andere Kandidaten überzeugt.

Nicht zuletzt dieses Spiel mit dem Unerwarteten, mit bald komischen, bald schwermütigen Kontrapunkten, ist es, das 1001 Nacht auszeichnet. Noch den ungnädigsten Momenten entlockt Gomes Witz und Poesie. Er verachtet das Naheliegende, Apodiktische, sucht noch dort nach Hoffnung, wo sie niemand mehr vermuten würde. Eine Gruppe von Männern, die Singvögel trainieren, steht im letzten Teil für eine zwecklose Freude am Schönen.

Und sogar ein zigarettenrauchdurchfluteter Wohnblock, in dem sich ein Paar das Leben genommen hat, bildet keinen Endpunkt. Zu einer gleitenden Kamerabewegung (Sayombhu Mukdeeprom, bekannt für seine Arbeit mit Apichatpong Weerasethakul) erklingt Lionel Richies kitschige Ballade Say You Say Me – ein Happy End mittendrin, wie es nur Miguel Gomes zu leisten vermag. (Dominik Kamalzadeh, 6.11.2015)