Die Fahne mit dem Loch auf dem rumänischen Schicksalsplatz.

Foto: Wölfl

Das gelbe Licht der Straßenlaternen im abendlichen Novembernebel erschafft im Bukarester Zentrum eine mystisch anmutende Lichtwolke, unter der sich die Menschen zusammenfinden, reden, in Tröten blasen, sich empören, nachdenken. "Die wissen nicht, was sie wollen", sagen viele Demonstranten über die anderen Demonstranten, die sich hier auf dem Platz des 21. Dezember 1989 eingefunden haben.

Und tatsächlich ist nach dem Rücktritt des rumänischen Premiers Victor Ponta die Frage, was man nun noch erreichen kann. Und die Antworten, die manche hier geben, klingen mehr als verwirrt. "Die Parteien denken vielleicht jetzt, dass es so weitergeht und alles gut ist. Aber es geht nicht um Ponta, es geht um das ganze System", sagt Adrian S. "Die stehlen alle unser Geld, und zwar in organisierter Art und Weise. Und Ponta gehört für mindestens 25 Jahre hinter Gitter."

Alle Parteien müssten weg

Seit einer Woche versammeln sich jeden Abend tausende Bukarester in der Innenstadt, um zu demonstrieren. Der Tontechniker und seine Freunde haben ein Manifest verfasst, das sie verteilen. Sie fordern ein Referendum mit drei Punkten: Alle Parteien müssen aufgelöst werden. Zweitens gehören weniger Minister in die Regierung, eine technische Übergangsregierung soll gebildet werden. Drittens darf sich diese nur aus Leuten zusammensetzen, die vor der Revolution 1989 nicht Teil des kommunistischen Systems waren. "Akademiker" sollen damit betraut werden, das zu überprüfen.

Die Menschen auf dem Platz des 21. Dezember sind sich in einem einig: Alle Politiker und alle Parteien sind korrupt und arbeiten nur für ihre Interessen. Das Vertrauen in die Politik ist erodiert. Die Radikalität dieser Ablehnung, auch der Ablehnung der parlamentarischen Demokratie hat etwas Erschreckendes. An ihr ist auch das Ausmaß eines allgemeinen Misstrauens und einer umfassenden Enttäuschung abzulesen.

Verschwörungstheorien

Viele Rumänen fühlen sich verraten. Sie hatten erwartet, dass die Annäherung und der Beitritt zur EU 2007 Wohlstand, Rechtssicherheit, Gerechtigkeit und soziale Sicherheit bringen würden. Doch das ist nicht in dem Ausmaß geschehen, wie sie es erwünscht haben. Und dafür werden die heimischen Politiker verantwortlich gemacht. Wenn die nicht da wären, dann wäre das Niveau so wie jenes in Deutschland, glauben viele. Auch das Misstrauen in die Medien ist fundamental. Die meisten dienen tatsächlich nicht der Aufklärung, sondern werden von wirtschaftlichen und Parteiinteressen gesteuert. Die Verschwörungstheorien und das Misstrauen, die unter Pegida-Anhängern in Deutschland herrschen, sind harmlos im Vergleich zu dem, was sich in Rumänien angestaut hat. Denn hier denken viel mehr Menschen so.

Totengedenken mit Torte

"Kennen Sie die Coliva-Torte?", fragt Adrian S. Der Kuchen aus Roggenmehl, Obststücken, Zwetschkenschnaps und Weißwein wird in Rumänien vor allem zu Allerheiligen zubereitet und zu Beerdigungen. Die Coliva mit den Kerzen darauf ist das Symbol des Totengedenkens in Rumänien. "Die Politiker müssen das verstehen. Wir lieben diesen Kuchen. Und wenn sie das nicht verstehen, dann werden wir es schaffen, dass es noch viel mehr zu gedenken gibt, viel mehr von diesem Kuchen", droht der 42-Jährige. Mit der Ehre für die Toten sei es Ernst, man könne nicht einfach weiter zur Tagesordnung übergehen.

"#Colectiv RIP"

Tatsächlich liegen vielen Bukarestern die Toten am Herzen. Unter eine Statue, an der ein Plakat mit der Aufschrift "#Colectiv RIP" zu sehen ist, legen die Menschen Blumen und zünden Kerzen an. Der Brand in der Disco Colectiv im Süden von Bukarest mit mindestens 41 Toten am 30. Oktober steht dafür, dass Menschen nichts zählen, wenn es um Geld geht, dass Sorgsamkeit und Sicherheit keine Rolle spielen, wenn Behörden Dinge überprüfen, weil die Beamten inkompetent sind und nach dem Willen von Parteien agieren, die wiederum wirtschaftliche Interessen haben. Im Fall der Disco Colectiv verwendete die Band, die dort auftrat, Pyrotechnik, die nicht genehmigt war, und auch die Sicherheitsvorschriften reichten nicht. Doch das zuständige Bezirksamt hatte das Event trotzdem genehmigt.

Deshalb füllt sich nun jeden Tag im November der Platz vor dem Nationaltheater mit Männern mit Anonymous-Masken, Studenten mit Fahrrädern, Pensionisten. Unterhalb des Platzes in der U-Bahn-Station wird diskutiert. Oben halten die Demonstranten Protestbanner in den Händen, sie verkleben sich den Mund mit Pflastern, halten Strohbesen in der Hand und kündigen an, die Politiker wegzukehren, sie klettern auf die Bühne, die vor dem Nationaltheater aufgebaut wurde, und brüllen Losungen ins Mikrofon: "Das Leben hat keine Führer, wir sind frei."

Hundeasyl

Daniela M. war bereits 1989 hier, sie war damals 21 und voller Hoffnung. Heute denkt sie darüber nach, ob sie ihrem Buben raten soll, in ein anderes Land zu gehen, wenn er größer wird, in den Westen – weil sie sich nicht sicher ist, ob Rumänien seine Heimat bleiben soll. Sie hat ein Hundeasyl aufgebaut und dutzende Hunde in den Westen gebracht. "Die Stadtverwaltung hier tötet die Hunde sonst", sagt sie. Auch Daniela ist überzeugt, dass "alle Politiker stehlen". Sie will aber nicht, dass die ins Gefängnis gehen. "Das bringt ja nichts, sie sollen uns nur einfach das Geld zurückgeben." Sie erzählt, dass sie selbst in der Stadtverwaltung gearbeitet habe, bis sie hinausgeworfen worden sei, weil sie bei der Korruption nicht mitgemacht habe.

Der Platz des 21. Dezember ist der Platz, an dem rumänische Bürger im Jahr 1989 Mut fassten, dem System zu trotzen und es umfassend infrage zu stellen. Damals wurde eine jahrzehntelange Apathie durchbrochen, die gesellschaftliche Übereinkunft des Anpassens an die Unterdrückung, an die Propaganda. Damals machten sich die Rumänen die Diskrepanz zwischen der eigenen Einschätzung und der veröffentlichten Meinung selbst klar. Die Revolution wurde kurze Zeit später von den Geheimdiensten und alten Strukturen "gestohlen". Und heute haben die Leute auf dem Platz Angst, dass der Protest "wieder gestohlen" wird. "Das ist unsere Bühne", skandieren sie deshalb in Sprechchören und wollen nicht, dass hier Politiker oder Bands auftreten.

Fahne mit Loch

Viele nehmen die Symbole des Widerstands aus dem Jahr 1989 mit – vor allem die Fahnen mit dem herausgeschnittenen Loch. Am Ende der kommunistischen Diktatur schnitten die Menschen den roten Stern aus ihren Fahnen. Den Stern gibt es schon lange nicht mehr, aber die Erinnerung an den damaligen Mut. Auch die Lieder von damals werden wieder gespielt. Am Sonntagabend kommt schließlich Präsident Klaus Johannis, um mit den Demonstranten zu sprechen. Er hört sich die Stimmen der Empörten an, aber auch er wirkt ratlos und meint, es sei unklar, ob Neuwahlen angesichts der Forderungen hier die Lösung seien. (Adelheid Wölfl aus Bukarest, 9.11.2015)