Nach einer langen Debatte, die zum Schluss eine starke Polarisierung von Parlament und Gesellschaft zeigte, hat der Deutsche Bundestag am 6. November über vier Gesetzentwürfe zum Thema Suizidhilfe abgestimmt. Die Bandbreite reichte von einem Totalverbot jeder Form von Sterbehilfe (analog der Rechtslage in Österreich) bis zur Zulassung von nichtkommerziellen Suizidhilfe-Organisationen unter strengen Auflagen. Einig waren sich alle Abgeordneten darüber, dass das Verbot der Tötung auf Verlangen bestehen bleiben sollte.

Durchgesetzt hat sich der Entwurf der Abgeordneten Michael Brand (CDU) und Kerstin Griese (SPD), der ein strafrechtliches Verbot der "geschäftsmäßigen" Suizidhilfe vorsieht. Damit sollen alle "auf Wiederholung angelegten" Suizidhilfe-Angebote von Organisationen oder Einzelpersonen verhindert werden. Und genau hier beginnen die Probleme.

Die Suizidhilfe war in Deutschland 150 Jahren straffrei. 140 namhafte Juristen setzten sich in einem Appell dafür ein, dass dies auch so bleiben sollte. Sie argumentieren, das neue Gesetz schaffe mehr Probleme, als es löst. Sie könnten recht behalten. Denn das Gesetz erzeugt unkalkulierbare Risiken für alle Ärzte, die in Extremfällen bei schwerst leidenden Patienten bereit wären, Suizidhilfe zu leisten. Selbst Gespräche über Suizidwünsche könnten als Anbahnung einer Straftat geahndet werden, was bisher nicht der Fall war.

In allen durchgeführten Umfragen war eine große Mehrheit der deutschen Bevölkerung für die Legalisierung der Suizidhilfe. Bundestagsvizepräsident Peter Hintze (CDU), von Beruf evangelischer Pfarrer, der einen eigenen Gesetzentwurf zur Regelung des ärztlich assistierten Suizids eingebracht hatte, beschwor seine Parlamentskollegen in der parlamentarischen Schlussdebatte mit den Worten: "Wir sind Volksvertreter – vertreten wir das Volk!"

Stattdessen hat sich die Mehrheit der Abgeordneten dem Dauerdruck der Kirchen sowie der konservativen Medien (die FAZ unterstellte Suizidhilfe-Befürwortern sogar "Nazi-Rhetorik") gebeugt. Und dies, obwohl der wissenschaftliche Dienst des Bundestags bei drei der vier Gesetzesvorlagen einschließlich des Brand/Griese-Entwurfs erhebliche Zweifel an deren Verfassungsmäßigkeit geäußert hatte. Es ist somit zu erwarten, dass sich die nächste Runde in dieser Debatte beim Bundesverfassungsgericht abspielen wird.

Aus Sicht eines Arztes, der über Jahrzehnte Schwerstkranke und Sterbende begleiten durfte, stellt sich die Frage, was ein solches Gesetz für die betroffenen Menschen bedeutet. Denn viele Menschen haben Angst. Angst vor unerträglichem Leiden am Lebensende sowie Angst vor dem Ausgeliefertsein an eine Medizin, die sich – auch getrieben von ökonomischen Anreizen – der Lebensverlängerung um jeden Preis verpflichtet sieht.

Der Deutsche Bundestag hat dankenswerterweise einen Tag vor Verabschiedung des Suizidhilfegesetzes ein Gesetz zur Verstärkung der Palliativ- und Hospizarbeit beschlossen, das sehr zu begrüßen ist. Allerdings sagen uns alle wissenschaftlichen Daten und die klinische Erfahrung, dass es immer Schwerstkranke geben wird, die auch bei bester Palliativbetreuung sagen: "Das, was mir noch bevorsteht, möchte ich nicht erleben."

Das Paradoxe an der ganzen Situation: Das deutsche Suizidhilfegesetz, das für die Bundesrepublik einen klaren Rückschritt gegenüber der bisherigen Rechtslage bedeutet, wäre für Österreich nachgerade ein Fortschritt. Denn dadurch würde wenigstens die in der Alpenrepublik geltende Kriminalisierung selbst verzweifelter Familienmitglieder aufgehoben, die ihren Angehörigen zur Suizidhilfe in die Schweiz begleiten.

Und noch wichtiger wäre für Österreich die Einsicht, die praktisch alle deutschen Bundestagsmitglieder vereint hat: Egal wie man zur Frage der Sterbehilfe steht, ist es oberste Pflicht jeder Politik, für eine würdige, fachlich kompetente und adäquat finanzierte Sterbebegleitung Sorge zu tragen. In Österreich sind Hospiz- und Palliativeinrichtungen immer noch dramatisch unterfinanziert, ein flächendeckendes Angebot noch lange nicht vorhanden.

Kein Pflichtfach

Schlimmer noch: Die Palliativmedizin ist in Österreich (anders als in Deutschland und in der Schweiz) nicht an allen medizinischen Universitäten Pflichtfach – obwohl jeder Arzt mit schwerstkranken und sterbenden Patienten konfrontiert ist. Dabei zeigen Studien eindeutig, dass der Einsatz der Palliativmedizin am Lebensende die Lebensqualität verbessert, die Übertherapie reduziert (und damit Kosten spart) und dabei die Lebensdauer sogar signifikant verlängert.

Stattdessen sieht sich die österreichische Bioethikkommission dieser Tage veranlasst, eine Erklärung "zur Frage der Vermeidung unverhältnismäßiger medizinischer Maßnahmen am Lebensende" abzugeben. Hier gäbe es wichtige Handlungsspielräume für die Politik, um den Sterbenden und ihren Familien eine echte Hilfe und Unterstützung zukommen zu lassen und Ängste vor dem Lebensende zu verringern. Das neue deutsche Hospiz- und Palliativgesetz könnte dafür ein gutes Vorbild sein. (Gian Domenico Borasio, 11.11.2015)