Tiphaine Samoyault, "Roland Barthes. Die Biographie". Aus dem Französischen von Maria Hoffmann-Dartevelle und Lis Künzli. € 41,10 / 880 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2015

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Alain Robbe-Grillet hat Roland Barthes einmal mit einem Aal verglichen. Nicht schmeichelhaft sei dieses Bild, schreibt die Biografin, aber durchaus treffend, denn ein hervorstechendes Merkmal an Roland Barthes' Schaffen sei die permanente Veränderung, das Sich-Entwinden aus festgefügtem Sinn.

Wie ein "Buch der Wandlungen" liest sich daher auch die monumentale Biografie, die die Literaturprofessorin und Romanautorin Tiphaine Samoyault vorgelegt hat und deren deutsche Übersetzung pünktlich zum 100. Geburtstag Roland Barthes' in der kommenden Woche erscheint.

Dieses Buch ist schon des bewältigten Materials wegen ein Gigant. Samoyault hat nicht nur die Literatur aufgearbeitet, die es von, zu und über Roland Barthes gibt, sie hatte auch Zugang zu bisher unveröffentlichten Archivmaterialien. Unter anderem sichtete sie rund 17.000 Notizzettel, die Barthes im Laufe seines Lebens angelegt und nach einem eigenen System gekennzeichnet hatte, zudem standen der Biografin auch Barthes' Terminkalender zur Verfügung, die er akribisch führte.

Weil Barthes selbst in seinen Büchern fragmentarisch blieb, alphabetische oder glossarische Ordnungen wählte, wäre es zu einfach, sein Leben bloß chronologisch zu erzählen. Samoyault will folglich Tiefenschürfungen vornehmen, interpretierend die Stränge von Leben, Denken und Werk verbinden, was ihr – trotz einiger hermeneutischer Überdrehtheiten – recht gut gelingt; unter anderem, weil ihr Text sich doch an den biografischen Daten entlang entwickelt.

Roland Barthes wuchs im Milieu eines verarmten Bürgertums an Frankreichs südlicher Atlantikküste und in Paris auf. Die großen "Biographeme" seines Lebens sind der frühe Tod des Vaters, Barthes' sehr enges Verhältnis zu seiner Mutter – mit der er bis zu deren Tod 1978 zusammenlebte -, seine Homosexualität und eine Tuberkuloseerkrankung, die ihm den klassischen Bildungsweg der französischen Elite verwehrte.

Samoyault beschreibt Barthes als einen paradox gestrickten Außenseiter, der einerseits einen starken Wunsch nach Zugehörigkeit hatte, "doch ohne vollständige Teilnahme, eine distanzierte Parteinahme statt eines wirklichen Engagements".

Mit krankheitsbedingter Verspätung suchte er seinen Platz im intellektuellen und akademischen Leben des Paris der 1950er-Jahre, engagierte sich im Theater, schrieb über Literatur, hatte Anstellungen an Kulturinstituten in Bukarest und Alexandria, bevor ihm mit dem Buch Am Nullpunkt der Literatur ein erster Durchbruch gelang.

Barthes' intellektuelle Entwicklung erscheint als beharrliche Suche nach einer Methode. Die "Sprache", das "Schreiben", die "Schrift" waren die großen Themen seines Lebens, aber auf eine verquere Weise, denn immer wollte er sich mithilfe der Sprache von der Sprache und ihrer Autorität befreien. Barthes entdeckte die Linguistik, den Strukturalismus, entwickelte selbst eine Semiologie, eine Theorie der Zeichen, und erhielt ab 1962 einen Lehrstuhl für die "Die Soziologie der Zeichen" an der École pratique des hautes études.

Er war Teil und Akteur in dieser sehr lebhaften Zeit französischer Theorieproduktion, die das ganze System der Geisteswissenschaften umgestalten würde. In einer späteren Phase wollte sich Barthes immer mehr von der Schwere der Zeichen befreien – er interessierte sich für japanische Kalligrafie, begann zu malen, erfreute sich an wortartigen Gebilden, die wie Zeichen erscheinen, aber nichts mehr bedeuten.

Samoyault betont, wie sehr Begehren und Lust seine Projekte begleiten, wie radikal sein Schreiben aus der eigenen sinnlichen Erfahrung schöpft. Dazu gehören neben ästhetischen auch sexuelle Vorlieben. Die Randständigkeit, die Homosexualität bedeutet, hält Samoyault, auch im Fall Michel Foucaults, für die Quelle eines kritischen, widerständigen Denkens. Sie beschreibt aber auch, welche Nachtclubs Barthes aufsuchte, gibt Einblick in das streng aufgeteilte Familienleben mit der Mutter einerseits und einem auf Reisen ausgelebten Liebesleben andererseits. Nicht immer ist Barthes einem sympathisch dabei, und stellenweise kippt hier die biografische Akribie ins Unheimliche.

Barthes mochte sich vielleicht als Außenseiter fühlen, doch sein Leben enthält – wie Samoyault ausführlich beschreibt – auch das ganze Who's who der französischen Geistes- und Literaturelite der 1950er- bis 1980er-Jahre. Die Biografie wird so auch zu einem Nachschlagewerk über das französische Kulturleben jener Zeit, zum riesigen Gesellschaftsroman.

Es ist ein Roman, der traurig endet. Mit seiner Berufung ans Collège de France im Jahr 1975 wird Roland Barthes zuletzt die höchste akademische Anerkennung in Frankreich zuteil. Bald darauf aber, im Jahr 1978, stirbt seine Mutter, was ihn in tiefe anhaltende Trauer stürzt, und nur drei Jahre später stirbt Roland Barthes selbst im Alter von 65 an den Folgen eines Autounfalls. Samoyaults Buch beginnt mit diesem Unfall und endet mit ihm. Wegen dieses Endes, aber nicht nur deshalb, bleibt nach der Lektüre eine leichte Bedrückung zurück. Wollte man wirklich so viel vom Leben Roland Barthes' wissen? (Andrea Roedig, Album, 13.11.2015)