Foto: Kein & Aber

Mit dem Namenmerken haben sie es mitunter nicht so, die Protagonisten in Philipp Tinglers Roman Schöne Seelen. Hieß das Dienstmädchen nun Ernestine, Esmeralda oder Hortense? Und der Psychotherapeut? Finkelfried? Martersteig? "Nein, das war der Anwalt." Kleine Witzchen am Rande? Nicht in Tinglers Sozialsatire. Dort verweist der subtile Running Gag auf eine grundlegende Eigenschaft der Figuren: Oft sind ihre Beziehungen zu Menschen nicht tief genug, um sie zu unterscheidbaren Wesen zu machen.

Leichter tut man sich schon mit Markennamen. Dass das Bettzeug von Porthault ist, die Duftkerzen von Diptyque und die Uhr eine Panerai, darüber herrschen in der gehobenen Zürcher Gesellschaft, wie sie hier inszeniert wird, kaum Zweifel. Kein Wunder: "Liebe und Hingabe", heißt es einmal, sind "nur eine vage Vorstellung" – sofern sie sich nicht gerade auf Dinge beziehen. "Oder auf kleine Hunde", wie der Erzähler einräumt.

Ob es wirklich so schlecht steht um die Liebe in dieser noblen Sphäre – dieser Frage geht Tingler in Schöne Seelen nach. Ihr Sinn ist der Schein, "ohne den (...) ihre Wirklichkeit ins Nichts der Wesenlosigkeit zerfallen wäre". In die Tiefe dieser Oberflächenwelt schickt der Schweizer Autor den aus seinem Roman Doktor Phil bekannten Schriftsteller Oskar Canow. Als Ironiker spielt dieser zwar das Spiel von den Äußerlichkeiten mit. Zumindest so weit, dass ihn eine "falsche" Hose des Therapeuten zu irritieren vermag ("Dad Jeans. Wie traumatisierend."). Und doch ist er sowohl sozial drinnen wie draußen.

Das macht ihn einer gewissen Millvina van Runkle sympathisch, die im ersten Kapitel verscheiden muss, weil bei ihrer jüngsten Schönheitsoperation etwas schiefgelaufen ist. Am Sterbebett vertraut sie Oskar eines der dunkelsten in dieser Gesellschaftssphäre denkbaren Geheimnisse an: Ihre Tochter Mildred ist adoptiert. Und gegen Eindringlinge in die besseren Kreise hegt man nun einmal Ressentiments. Auch Mildred selbst.

Dass damit ein echtes Pulverfass im Raum steht, daran muss man sich als lesender Gast dieser auf reizvolle Art artifiziellen, ja comichaft verfremdeten (und übrigens auch sexualitätslosen) Welt erst gewöhnen. Tingler facht unterdessen genüsslich die Zündschnur an: Mildred zwingt nämlich ihren Gatten Viktor aufgrund einer Ehekrise zur Psychotherapie; dieser weigert sich und schmiedet mit seinem Freund Oskar den kühnen Plan, dass dieser doch stellvertretend die Therapie absolvieren könnte. Der Schriftsteller erhofft sich Inspiration und "all die Erkenntnis ohne jeden Schmerz". Oskars Gattin Lauren ahnt, dass das böse ausgehen könnte. Ein Hauch von Schwefelgeruch ist nicht das Letzte, was an den Teufelspakt in Manns Doktor Faustus erinnert.

Unterdessen macht sich das Buch auf zu Exkursen über Psyche, Charakter oder Schicksal, die sich etwa zwischen Doktor Hockstädder und seinem Klienten entspinnen. Sie bringen Aperçus mit sich wie "Kunst ist überhaupt nur möglich auf Kosten anderer Leute", "Die besten Beziehungen machen theoretisch keinen Sinn" oder "Es gibt Leute, die leben und Leute, die ihr Leben führen". Ausführungen über die Bedeutung von Tod und Krankheit für das Leben und die Kunst erinnern wiederum an den Zauberberg.

Schöne Seelen ist immer angenehm und größtenteils spannend zu lesen. Langatmigkeit stellt sich vornehmlich dort ein, wo Tingler, mit seinem Gespür für beinahe filmische Dialogschlagabtäusche ein bisschen übertreibend, gar redundant die bösartige Oberflächlichkeit der von ihm karikierten Gesellschaft variiert. (Roman Gerold, Album, 5.12.2015)