96 und kein bisschen leise. Lili Gutmann weiß, wie man mit widerspenstigen Sammlern und Museumsdirektoren verhandelt: "Man muss Fantasie entwickeln."

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Triton und Nymphe als Kanne, wiedergefunden durch Lili Gutmann.

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Ein Kunstwerk aus dem 16. Jahrhundert, eine Silberuhr namens "Die Uhr des Orpheus".

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Ihr Gedächtnis, sagt sie selbst, gleiche einem Radargerät. Auch heute noch, mit 96 Jahren, kann sich Lili Gutmann bis ins Detail an die Kunstsammlung ihres Großvaters Eugen Gutmann und ihres Vaters Fritz Gutmann erinnern.

Dazu zählten unter anderem Gemälde von Botticelli, Degas, Renoir und dem venezianischen Künstler Canaletto. Im Besonderen erinnert sie sich an ein Kunstwerk aus dem 16. Jahrhundert, an eine Silberuhr namens "Die Uhr des Orpheus".

Diese wurde inzwischen titelgebend für ein in den USA, in Italien und den Niederlanden veröffentlichtes Buch: "The Orpheus Clock". Verfasst hat es ihr Neffe, Simon Goodman. Er beschreibt darin, wie und weshalb die Kunstwerke seines Urgroßvaters Eugen und seines Großvaters Fritz während der Nazizeit abhandengekommen sind – und wie er einige mithilfe seiner Tante Lili wiedergefunden hat.

Hitler und Göring seien ganz wild auf die Gemälde gewesen, Göring auch auf die Orpheus-Uhr. Lilis Vater Fritz Gutmann, der während der deutschen Besatzung die Filiale der Dresdner Bank in den Niederlanden leitete, wollte die Werke nicht herausrücken. Er verweigerte die Unterschrift unter eine "Schenkungsurkunde".

Für diesen Akt des Ungehorsams wurden Fritz und seine Frau Louise ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Er wurde dort totgeschlagen, Louise in Auschwitz vergast. Lili war damals in Florenz, ihr Bruder Bernard in London. Heute sagt sie: "Wäre ich in Holland, in Leiden, geblieben, wäre ich auch umgekommen."

Auf die Frage, ob dieses Buch auch in deutscher Sprache veröffentlicht wird, antwortet sie: "Ich wünsche es mir sehr. Aber scheinbar hat sich noch kein Verleger dafür gefunden." Aber sie hoffe weiter.

In den Vereinigten Staaten verhandelt ihr Neffe Simon, der in Los Angeles lebt, dagegen bereits über die Filmrechte für das Buch. "Ich bin nur neugierig, welche Schauspielerin aus Hollywood meine Rolle übernehmen wird", sagt die rüstige Lili. Übrigens: "Die Uhr des Orpheus" ist im Stadtmuseum von Stuttgart zu bewundern.

Ende des Schweigens

Lili Gutmann, Jahrgang 1919, ist eine der letzten Zeitzeuginnen, die erlebt haben, was jüdischen Bankiersfamilien während der Nazizeit widerfuhr. Die aus Böhmen stammenden Gutmanns waren eine assimilierte jüdische Familie – schon Ende des 19. Jahrhunderts waren sie zum evangelischen Glauben übergetreten.

"Es schmerzt, über das Schicksal meiner Familie zu reden, besonders über das, was meinen Eltern widerfuhr", sagt Lili Gutmann. Jahrzehntelang habe sie daher geschwiegen, aber nun, im hohen Alter, habe sie sich doch entschlossen zu sprechen. Schließlich sei sie eine der Letzten, die "diese Zeit" noch miterlebt haben.

Mit 18 Jahren war Lili nach Lucca geschickt worden, wo sie Italienisch studieren sollte. Mit 19 lernte sie ihren späteren Mann, Bosi, in Florenz kennen. Als die Nazis an die Macht kamen, wandte sie sich mehrmals über Verwandte in Rom an Mussolini, um eine Einreiseerlaubnis für ihre Eltern nach Italien zu bewirken.

Als es 1942 endlich so weit schien, wartete Lili 24 Stunden lang am Bahnhof von Florenz auf die heißersehnte Ankunft ihrer Eltern. Sie wusste damals nicht, dass auf Befehl Görings der Wagon, in dem diese saßen, nach Berlin abgeleitet worden war, und sie dann direkt in einen Zug nach Theresienstadt verfrachtet wurden. Erst zu Kriegsende erfuhr sie vom Schicksal ihrer Eltern.

"Mein Schwiegervater hatte mir damals empfohlen, kein Wort Deutsch zu sprechen, damit die Faschisten nicht auf mich aufmerksam werden", erinnert sich Lili. Nach Kriegsende wurde Lili Gutmann Journalistin. Sie war jahrzehntelang Auslandskorrespondentin, zuerst für eine niederländische Tageszeitung, dann auch für eine deutsche Textil-und Modezeitschrift. Heute lebt sie in Florenz, wo auch ihre drei Kinder und mehrere Enkelkinder zu Hause sind.

Vorarbeit durch den Bruder

Erst in den 1990er-Jahren machte sich Lili, unterstützt durch ihren Neffen Simon, auf die Suche nach den verloren gegangenen Kunstschätzen. Ausschlaggebend war der Tod ihres Bruders Bernard im Jahr 1994. Dieser hatte stillschweigend in den vorangegangenen vierzig Jahren nach den Kunstwerken aus der Gutmann-Sammlung gesucht und zahlreiche Stücke in Museen und bei privaten Kunstsammlern entdeckt.

Doch seine Bemühungen um Rückerstattung der Kunstwerke verliefen im Sand. Bernard hatte jedoch all seine Entdeckungen notiert und diese seinen Söhnen vermacht, die davor nicht einmal gewusst hatten, dass sie von einer jüdisch-böhmischen Bankiersfamilie abstammten.

Eines Tages entdeckte Lili bei einer Auktion das Porzellanservice ihres Großvaters und Silberobjekte, die sie als Familienbesitz erkannte. Einen Degas, den einst ihre Familie besessen hatte, fand sie bei einem privaten Kunstsammler in Chicago wieder. Der Sammler hatte das Bild in gutem Glauben erworben, Lili ließ aber nicht locker. Sie traf ihn am Flughafen Heathrow und überzeugte ihn, das Bild dem jüdischen Museum zu übergeben.

"Bei Verhandlungen muss man Fantasie entwickeln", grinst sie. "Nach zwei Bloody Marys hat er meinem Vorschlag zugestimmt." Ein ebenfalls der Gutmann-Kunstsammlung zuzuordnendes Botticelli-Bild, "Ritratto di Giovane", hängt mittlerweile im Kunstmuseum von Colorado. Die schwierigsten Verhandlungspartner seien die Museumsdirektoren, beschwert sich Lili. "Es ist schwierig, dass sie herausgeben, was sie sich einmal – recht- oder unrechtmäßig – angeeignet hatten."

Schwierige Verhandlungen

Lili und ihr Neffe haben bei ihren Recherchen mithilfe eines Antiquars auch entdeckt, dass Hitler und Göring persönlich einen Großteil der Sammlung erworben haben. Insgesamt liest sich die Geschichte der Gutmann-Sammlung wie so viele Restitutionsfälle. Angeblich habe ihr Vater einen Teil der Sammlung damals einem jüdischen Sammler in Paris zur Aufbewahrung anvertraut, erzählt Lili.

Dieser habe aber nach dem Krieg jegliche Herausgabe verweigert. Er habe nämlich auch selbst weltweit mit der enteigneten Kunst gehandelt. Neben Deutschland und der Schweiz sei ein Teil der Sammlung zu Kriegsende nach Russland transportiert worden. "Es ist unmöglich, bei der Eremitage oder im Puschkin-Museum etwas über die Bilder zu erfahren. Die Russen wollen nicht sprechen", kritisiert die alte Dame. Es sei auch möglich, dass sich in Österreich Gemälde aus Gutmann-Eigentum befänden.

Sollte das der Fall sein, wäre das fast ein Glücksfall, sagt Sergio Romano, Historiker und Diplomat in Mailand. Romano: "Kein Land hat eine derart großzügige Gesetzgebung wie Österreich, was die Rückgabe von enteigneten Kunstschätzen betrifft."

Die 96-jährige Lili Gutmann lässt sich ohnehin nicht entmutigen. Immerhin hat sie noch den Katalog der Kunstsammlung ihres Urgroßvaters – und ihr Gedächtnis. (Thesy Kness-Bastaroli, 13.12.2015)