Im Parlament beschlossene Gesetze finden den Weg ins reale Zusammenleben oft nicht.

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Auf dem Papier genießen Blinden- und Assistenzhunde seit Jahren Sonderrechte in Bezug auf Zugang zu öffentlichen Orten und Dienstleistungen.

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Fehlender Bedacht kreiert Behinderungen für Menschen mit besonderen Bedürfnissen.

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Die Forderung nach Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Behinderung wird seit Jahrzehnten ausgesprochen.

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Wien – Ende Dezember wollte Markus Wolf, Präsident des Blinden- und Sehbehindertenverbands Österreich (BSVÖ), zusammen mit seiner Führhündin ein Taxi nach Hause nehmen. Doch am Hauptbahnhof wurde ihm die Autotüre vor der Nase zugeschlagen. Nach einer erfolglosen Diskussion blieb der BSVÖ-Präsident aufgebracht zurück – das Taxi fuhr davon.

Szenen wie diese sind kein Einzelschicksal und nicht nur inakzeptabel, sondern provozieren rechtliche Folgen.

Am 1. Jänner 2012 wurde seitens des BSVÖ und der Wirtschaftsfachgruppe für Beförderungsgewerbe eine Regelung ausgearbeitet, die Taxilenker dazu verpflichtet, Personen mitsamt Führhund zu befördern. Darüber hinaus hat das Sozialministerium mit 1. Jänner 2015 eine Richtlinie für Assistenzhunde beschlossen, die den freien Zugang zu öffentlichen Orten und Dienstleistungen regelt.

Vom Wort zur Tat

Dass anhand erarbeiteter Vorgaben der Ministerien und Interessenverbände der Wandel von Vision zum tatsächlich vorfindbaren Sachverhalt oftmals nicht gelingt, zeigen auch andere Beispiele.

Ein Rollstuhlfahrer, der die Treppe zur U-Bahn nicht überwinden kann und keinen Lift in der Station vorfindet. Kinder mit geistiger Behinderung, die abgesondert von ihren Alterskollegen unterrichtet werden. Oder unzureichende Leitsysteme für Blinde im öffentlichen Raum. Die Aufzählung beinhaltet nur einige wenige Beispiele, die sich im Alltag auftun.

Regelung per Gesetz

Derartige Hürden für Menschen mit besonderen Bedürfnissen sollte das vor zehn Jahren in Kraft getretene Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz eigentlich abbauen.

Nun blickten Behindertenanwalt Erwin Buchinger und Sozialminister Rudolf Hundstorfer zusammen mit Klaus Voget, dem Präsidenten der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (ÖAR), auf die bisherigen Entwicklungen zurück.

Der Befund fällt bescheiden aus – was den Glauben an die Wirksamkeit von Maßnahmen wie dem "Nationalen Aktionsplan Behinderung 2012–2020", der als Strategie der österreichischen Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention gilt, schmälert.

Schadenersatzklage

Zehn Jahre gab es Zeit, Gebäude barrierefrei zu machen und die Inklusion im Alltag zu verwirklichen. Weit weniger als 50 Prozent der Unternehmen im privaten Bereich nutzten die Übergangsfrist. Ab jetzt ist die Schaffung von Barrierefreiheit an die individuelle Prüfung der finanziellen Zumutbarkeit gebunden. Bleiben die Hürden für Menschen mit Behinderungen ungerechtfertigt hoch, kann dies zu einer Schadenersatzklage durch die Betroffenen führen. Allerdings ist eine solche erst zulässig, wenn ein zuvor eingeleitetes Schlichtungsverfahren keine Einigung gebracht hat. Hundstorfer merkte diesbezüglich an: "Das soll keine Drohung sein, aber es ist klar, dass wir Streitfälle haben werden."

Wirksamkeit von Schlichtungsverfahren

Einer Meinung zeigte sich das Trio Buchinger, Hundstorfer und Voget betreffend der Wirksamkeit von Schlichtungsverfahren. Die Behindertenanwaltschaft hat bisher an mehr als 200 von diesen teilgenommen, die wegen vermuteter Diskriminierung Behinderter eingebracht wurden. "Hier appelliere ich an Betroffene, dieses Instrumentarium zu nutzen", sagte Voget. Er sprach von einer "Erfolgsgeschichte". Dazu meint auch die Grünen-Behindertensprecherin Jarmer: "Der Behindertenanwalt ist eine sinnvolle Einrichtung, er muss allerdings in seinen Kompetenzen gestärkt werden. Ebenso wichtig wären regelmäßige Berichte an den Nationalrat, analog zur Volksanwaltschaft."

Diskriminierung klagbar

In Österreich gibt es keine Behörde oder Einrichtung, die kontrolliert, ob ein Unternehmen barrierefrei ist. Daher wird nicht die unerfüllte Barrierefreiheit, sondern Diskriminierung eingeklagt. Dabei kann materieller und immaterieller Schaden eingeklagt werden. Sprich verlorenes Geld und verletzter Stolz, beziehungsweise Beleidigung. Eine Barriere gilt dann als Diskriminierung, wenn man dem Unternehmen die Beseitigung zumuten kann.

Zumutbarkeitsprüfung

Fordert ein Mensch mit Behinderung Schadenersatz, wird eine spezielle Prüfung der Zumutbarkeit durchgeführt. Dabei werden die Einnahmen des Unternehmens den Kosten der Beseitigung der Barriere gegenübergestellt. Ist es einem Betrieb nicht zumutbar, völlige Barrierefreiheit herzustellen, müssen zumindest die gröbsten Hürden beseitigt werden.

Da Gerichtsverhandlungen nicht nur langwierig, sondern auch kostspielig sind, meinte Voget: "Ein leichter Zugang zu Recht, verbunden mit einer Senkung des Kostenrisikos für Verhandlungen, ist notwendig."

Geistige und bauliche Barrieren abbauen

Hundstorfer bezog sich allerdings nicht nur auf die Wirtschaft, sondern auf die gesamte Gesellschaft: "Wir haben vieles umgesetzt, aber es ist noch vieles zu tun. Sowohl baulich als auch in den Köpfen – da sind wir uns einig." Die Einigkeit des Ministers mit Voget wurde allerdings mit dessen Kommentar "Barrieren in Köpfen abbauen – kann ich nicht mehr hören, das höre ich seit 30 Jahren" entkräftet. Der ÖAR-Präsident betonte, dass es einer Verschärfung des Gesetzes bedürfe, um formulierte Ziele wirkungsvoll zu realisieren.

Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch fehlt

Nämlich in Form eines Beseitigungs- und Unterlassungsanspruches, der Festsetzung eines spürbaren Mindestschadenersatzbeitrages und einer Regelung über die Minimierung des Kostenrisikos für Betroffene. Dem pflichtet in einer Aussendung auch Jarmer bei: "Was fehlt, ist ein klarer Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch im Gesetz."

Voget kritisierte: "Der ursprüngliche Entwurf war deutlich schärfer gefasst als das jetzige Gesetz." Mit dem im Übrigen nicht "irgendwas vom Himmel gefallen ist", denn die Debatte um Inklusion und Gleichstellung von Menschen mit Behinderung sei seit 30 Jahren im Gange und wurde lediglich "erst 2006 in Gesetzesform gegossen".

Umstrukturierung erforderlich

Einig zeigten sich die Interessenvertreter, dass insbesondere im privatwirtschaftlichen Bereich Handlungsbedarf bestehe und beeinträchtigte Personen Zugang zum Regelarbeitsmarkt erhalten müssen. Behindertenanwalt Buchinger meinte, dass die Beschäftigungsoffensive von Menschen mit Behinderung auch finanziell massiv auszubauen sei.

Denn die Arbeitsmarktchancen behinderter Menschen haben sich in den zehn Jahren der Geltung des Gleichstellungsrechtes – mit einem Plus von 130 Prozent an arbeitslosen Personen mit Behinderung – massiv verschlechtert. Auch im Schulbereich müsse man Ziele formulieren und ein deutliches Bekenntnis zu Inklusion umsetzen, forderte Buchinger.

Denn die Zahl der Sonderschüler habe weiter zugenommen und der Zugang zu Regelschulen sei weiterhin von Hürden gesäumt. Eine positive Entwicklung lässt sich an pädagogischen Hochschulen verzeichnen, wo bislang diskriminierende Bestimmungen beseitigt und der Zugang behinderter Studierender ermöglicht wurde.

Öffentlicher Raum schlägt Wohnbau

Insbesondere im öffentlichen Raum seien positive Veränderungen beobachtbar. Die Barrierefreiheit des öffentlichen Verkehrs und der Zugang zu öffentlich verfügbaren Gütern und Dienstleistungen verzeichnet die besten Entwicklungen. "Da muss man der öffentlichen Hand ausnahmsweise ein Kompliment aussprechen", sagte Voget.

Demgegenüber besteht im Wohnbau Änderungsbedarf, denn hier seien im Rahmen der Bilanzierung des Bunds-Behindertengleichstellungsgesetzes Rückschritte bezüglich der Barrierefreiheit festgestellt worden. (Anna Celine Mark, 14.1.2016)