Verliebte. Romantiker. Einsame. Sie alle tun es. Sie schreiben Briefe an Julia, Verona, Italia. An jene Julia, die Shakespeare mit Romeo und Julia unsterblich gemacht aber mit keiner eindeutigen Postadresse bedacht hat. Trotzdem kommen die Schreiben seit Jahrzehnten nicht nur an, irgendeine Julia antwortet auch darauf. 5.000 Briefe erreichen Verona jährlich per Post, rund 2.000 E-Mails kommen noch dazu.

Ist man persönlich nach Verona gereist, holt einen Julia sogar ab. Zum Beispiel im Hotel Giulietta e Romeo, nur ein paar Schritte von der Arena di Verona entfernt. Im echten Leben heißt sie allerdings Manuela Uber, ist 42 Jahre alt und Fremdenführerin in Verona. Ihr Hobby: Julia spielen, nicht auf der Bühne, sondern als Briefeschreiberin. Manuela gehört zu den vierzehn Veroneserinnen, die alle Schreiben an Julia persönlich beantworten. Alle tun das ehrenamtlich. Alle schreiben im Durchschnitt 1,2 Briefe pro Tag.

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Die Julia-Statue stammt aus dem Jahr 1972.
Foto: Picturedesk/Westend61

"Er ist an allem Schuld", sagt Manuela und deutet auf die Bronze-Büste an der Portini de la Bra: William Shakespeare. Er schuf mit Romeo und Julia die berühmteste Liebesgeschichte der Welt. "Sie erscheint so möglich, so glaubhaft, aber sie ist nicht bewiesen", meint die Fremdenführerin. Kurz vor dem Haus von Romeo, einer Casa Torre aus dem späten 13. Jahrhundert, lädt Manuela auf ein Julia-Küsschen ein. In der Pasticceria de Rossi gibt es die Baci di Giulietta, eine Süßigkeit aus Marzipan und Zuckerguss.

Komplizierte Anfragen

"Für die meisten sind die Briefe an Julia wie ein Tagebucheintrag. Viele reflektieren und erwarten gar keine Antwort. Dennoch schreiben wir zurück. Der Mythos soll leben." Manchmal, bei komplizierten Anfragen, wenn es etwa um Beziehungen geht, bei denen Religion oder soziale Unterschiede eine Rolle spielen, schläft Manuela auch einmal eine Nacht darüber, ehe sie antwortet. "Einmal ist einer ins Kloster gegangen, weil er die Liebe seines Lebens nicht bekommen konnte."

Eine Menschentraube deutet an: Romeos Domizil ist erreicht. "Das Backsteinhaus mit Turm zeigt, dass Romeos Familie mit Namen Montecchi mächtig und reich gewesen sein muss", sagt Manuela. Die Montecchis gehörten den Ghibellini an, waren also Anhänger der Kaiser-Partei, während Julias Familie Cappelletti zu den Guelfi gehörten, den Papst-Treuen. Eben jene Konstellation, die eine Liebe zwischen Julia und Romeo nicht zuließ.

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Der Julia-Balkon in Verona war ursprünglich ein Sarkophag und wurde
erst 1935 an die Fassade eines Hauses aus dem 3. Jahrhundert angebracht.

"90 Prozent der Briefeschreiber haben Liebesprobleme, zehn Prozent verleihen ihrem Glück Ausdruck. Zur Hälfte sind es junge Leute zwischen 16 und 25, aber auch 70-Jährige schreiben uns", sagt Manuela. "Es geht irgendwie immer um Dinge, die sich um die Liebe drehen." Susan aus Schottland wollte etwa wissen, ob romantische Liebe in einem kühlen Klima überhaupt möglich sei. Oder Graziella aus Mailand schrieb zum Valentinstag, dass sie nun schon 50 Jahre alt sei und noch nie einen Romeo gehabt habe, der nicht auf den Rosenstrauß vergessen hätte.

Rechts und links einer Toreinfahrt in der Via Cappello haben Menschen von überallher Liebesbotschaften auf die Wände gekritzelt. Als ob man in einen Fischschwarm geraten sei, wird man in den Hof gedrängt, wo eine Julia-Statue steht und ein Balkon zu bewundern ist. Die Bronzestaue gibt es seit 1972. Die rechte Brust ist glatt poliert, denn beinahe jeder Besucher begrapscht sie ungeniert. Wer das tut, dem wird die Liebe ewig hold bleiben, sagt man. Und der Balkon ist zwar aus dem 13. Jahrhundert wie auch das Cappelletti-Haus, nur hatte das Gebäude ursprünglich gar keinen Balkon. Shakespeare hat ihn ebenso erfunden wie zwei Drittel der Tragödie, die über 400 Jahre später zu einer geldspuckenden Komödie für Verona wurde.

Mit Liebe gepflegter Mythos

Julias Balkon ist eigentlich ein Sarkophag. Der Leiter der Veroneser Museen ließ ihn 1935 bei Renovierungsarbeiten an der Fassade anbringen. So absurd diese Geschichte wirken mag und so kitschig sie vermarktet wird, der Mythos selbst wird von sehr vielen mit echter Liebe und Hingabe gepflegt. Auch deshalb werden wohl neue Theaterinszenierungen und Verfilmungen fast immer Erfolg haben, meint Manuela. Sie findet es nur schade, "dass die Regisseure vorher nie mit einer unserer Julias sprechen".

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Im Club de Giulietta stellt Manuela dessen Präsidenten Julio Tamassia vor. Der 81-Jährige erzählt von den Anfängen des Vereins: 1937, also zwei Jahre nach dem Bau des Julia-Balkons, gingen erstmals Briefe adressiert an Julia, Verona, Italia ein. In den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg beantwortete sie nur ein einzelner Romeo namens Ettore Solimani.

Russische Julia in Moskau

"Um 1970 gründete ich dann mit ein paar Veronesi den Julia-Club, weil uns der Mythos interessierte", sagt Tamassia. "15 Jahre später fragte der Kulturreferent der Stadt, ob wir die unzähligen Julia-Briefe denn nicht wieder beantworten wollten wie einst Ettore". Inzwischen sind es mehr als 120.000, die aus allen Teilen der Welt kamen. "Und wissen Sie was? Neuerdings haben wir als Verstärkung für unsere Julias wieder einen Romeo, einen netten jungen Mann aus Nigeria, der in Verona lebt. Zudem gibt es eine einzige externe Julia: Olga in Moskau, denn keiner von uns versteht Russisch."

"Die Welt braucht Liebe, auch wenn sie im Tod mündet", sagt Manuela vor dem vermeintlichen Grab von Julia, etwas außerhalb des Stadtkerns. Dort wurden die ersten Briefe an Julia gefunden. Und dort kann man heute heiraten. Wer lässt sich denn vor einem leeren Grab trauen? "Das erzähle ich beim Mittagessen", sagt Manuela und drängt zum Aufbruch in die Osteria Giulietta e Romeo. (Jochen Müssig, 2.2.2016)