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"Wir sind die Revolution" steht an einer Mauer nahe der tunesischen Stadt Kasserine. Hier haben zuletzt zahlreiche vor allem junge Menschen gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung demonstriert.

Foto: REUTERS/Zohra Bensemra

In Tunesien nahm vor rund fünf Jahren der "Arabische Frühling" seinen Ausgang, als Machthaber Zine El Abidine Ben Ali nach wochenlangen Protesten aus dem Amt verdrängt wurde. Es gilt seither als einziges Land in der Region, das den friedlichen Machtwechsel geschafft hat. Dennoch demonstrierten zuletzt zahlreiche Menschen auf den Straßen tunesischer Städte gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung. Reformen hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit seien ausgeblieben, kritisiert Tunesien-Experte Hamza Meddeb vom Carnegie Middle East Center in Beirut.

STANDARD: Fünf Jahre nach der Revolution in Tunesien sind viele Bürger enttäuscht und äußern ihre Frustration in Protesten auf der Straße. Wieso gerade jetzt?

Meddeb: In Tunesien wurde viel erreicht. Die internationale Gemeinschaft feiert Tunesien als eine Erfolgsgeschichte, nachdem dreimal freie, friedliche Wahlen stattgefunden haben und eine moderne Verfassung verabschiedet wurde. Diese Erfolgsgeschichte verschleiert natürlich, dass konkret nichts im Zusammenhang mit sozialer Gerechtigkeit unternommen wurde. Die neue Regierung begann im Jahr 2014 damit, Sozialprogramme und Wirtschaftsreformen zurückzufahren. Jedes Jahr suchen 140.000 junge Menschen zusätzlich einen Job, zugleich werden aber nur maximal 60.000 neue Jobs geschaffen. Die Arbeitslosenrate liegt in der jungen Bevölkerung bei rund 40 Prozent, ein Drittel der Arbeitslosen sind Universitätsabsolventen. Das alles erhöht Frustration und Enttäuschung.

STANDARD: Werden sich die Proteste noch einmal ausweiten?

Meddeb: Premier Habib Essid hat angekündigt, eine Strategie zur Lösung der Krise vorzulegen, die Menschen warten jetzt darauf. Er will damit hauptsächlich Zeit gewinnen, aber die Regierung steht verloren da. Es gibt keine eindeutige politische Strategie oder Vision. Dem Premier fehlt außerdem die politische Macht, der Präsident monopolisiert die Exekutivgewalt. Das korrespondiert nicht mit der neuen Verfassung, es ist ein alter Weg, Politik zu machen.

STANDARD: Überschreitet Präsident Béji Caïd Essebsi seine Kompetenzen?

Meddeb: Es gibt die Sehnsucht, zum Polizeistaat zurückzukehren, um die Proteste unter Kontrolle zu halten. Aber die Menschen haben sich in vielen Regionen bereits mobilisiert.

STANDARD: Wie ähnlich ist die jetzige politische Klasse jener unter dem früheren Machthaber Ben Ali?

Meddeb: Der tunesische Kompromiss wurde eigentlich zwischen den Islamisten (Ennahda) und dem alten Regime (Nidaa Tounes) geschlossen. Vielleicht sind es keine Menschen, die in der ersten Reihe mit Ben Ali standen, aber wohl Leute aus der zweiten Reihe, die sehr stark in das Regime verwickelt waren und nun durch Nidaa Tounes an die Macht zurückkehren. Was die Bürokratie betrifft, hat sich nichts verändert. Die Bürokraten und hohen Beamten sind immer noch dieselben.

STANDARD: Zeigt die wenig Fortschritte bringende Kooperation zwischen Ennahda und Nidaa Tounes, dass zwischen den Parteien zu substanzielle Unterschiede bestehen?

Meddeb: Der wichtigste Aspekt dieses Kompromisses ist, dass er nicht auf Konfliktlösung basiert, sondern auf gegenseitiger Neutralisierung und Akzeptanz. Die Integration der Islamisten in das politische System stellt eine Strategie der Risiko- und Problemvermeidung dar. Das hat die Position von Präsident Essebsi eigentlich geschwächt. Er war nicht in der Lage, seine Partei zu vereinen, 30 Parlamentarier sind ausgetreten. Das hat seiner Glaubwürdigkeit geschadet.

STANDARD: Wie wird die Zukunft der Nidaa Tounes aussehen?

Meddeb: Wir haben eine Partei, die mehr als ein Drittel ihrer Parlamentarier verloren hat. Es ist ein Wettbewerb zwischen ambitionierten Führungspersönlichkeiten, gleichzeitig gibt es keinen Anführer, der die Partei vereinen könnte. Meiner Ansicht nach bewegen wir uns auf mehr Zersplitterung zu.

STANDARD: Wie erklären Sie sich die Diskrepanz in der Wahrnehmung von Menschen innerhalb und außerhalb des Landes?

Meddeb: Der tunesische Erfolg ist wichtig für die internationale Gemeinschaft, weil er zeigt, dass Demokratie nichts Seltsames für die arabische Welt ist, die Menschen können demokratische Strukturen implementieren. Das ist ein Grund zur Hoffnung für die arabischen Staaten und für die Welt. Es zeigt, dass Stabilität durch Demokratie und nicht durch Diktatur aufgebaut werden kann. Zugleich ist Tunesien aber das einzig demokratische Land in einer chaotischen arabischen Welt, viele arabische Staaten schätzen das nicht.

STANDARD: Auch die Radikalisierung ist ein Problem, nicht nur in Nachbarstaaten wie Libyen, sondern auch innerhalb Tunesiens, das eine besonders hohe Anzahl an "Foreign Fighters" vorweist. Was ist hier die Strategie der Regierung?

Meddeb: Es gibt keine wirkliche Antiterrorstrategie, Polizei und Armee machen ihre Arbeit, aber die Zivilgesellschaft muss involviert werden. Eine breite nationale Koalition gegen den Terrorismus gibt es nicht. Es braucht aber zum Beispiel eine Einigung darüber, wie religiöser Raum reguliert wird, wie man pluralistische religiöse Bereiche schaffen kann – eine allgemeine Debatte gegen Radikalisierung.

STANDARD: Diverse Menschenrechtsorganisationen üben Kritik am Verhalten der Polizei, werfen ihr Misshandlungen und Folter vor. Nimmt die Regierung Menschenrechtsverletzungen für den Kampf gegen den Terror in Kauf?

Meddeb: Ein Erfolg der Revolution ist, dass die zivilgesellschaftlichen Organisationen diese Missstände anprangern. Die Regierung reagiert aber nicht auf die Vorwürfe, konkrete Maßnahmen gegen beschuldigte Polizisten gibt es nicht. Sie versucht nicht wirklich Menschenrechte zu schützen, während Terror bekämpft wird, sie ist in dieser Frage nicht besonders sensibel.

STANDARD: In der eigentlich sehr modernen Verfassung ist persönliche Freiheit festgeschrieben, zugleich sieht das tunesische Strafrecht aber bei gleichgeschlechtlichem Sex nach wie vor eine Haftstrafe von bis zu drei Jahren vor. Wird sich die Diskrepanz zwischen der Verfassung und geltenden Gesetzen in naher Zukunft ändern?

Meddeb: Es reicht nicht, eine neue Verfassung zu formulieren. Die Gesetze müssen evaluiert und der neuen Verfassung angepasst werden. Es ist ein schwieriger Prozess und nicht wirklich eine Priorität der Regierung. In naher Zukunft wird sich da nichts ändern. Wir warten auch immer noch auf ein Verfassungsgericht.

STANDARD: Was sind die positiven Errungenschaften der Revolution – und sind sie den Bürgerinnen und Bürgern in ihrer prekären wirtschaftlichen Situation bewusst?

Meddeb: Soziale Bewegungen sind sehr dynamisch, Menschen versuchen sich in neuen Formen zu organisieren, um die Politik zu beeinflussen und ihre Rechte einzufordern. In den nächsten Jahren werden wir wahrscheinlich den Eingang dieser sozialen Bewegungen in die politische Szene beobachten können. (Noura Maan, 3.2.2016)