Bild nicht mehr verfügbar.

Lager für syrische Flüchtlinge in der Nähe der syrisch-türkischen Grenzstadt Bab al-Salam.

Foto: REUTERS/OSMAN ORSAL

Es ist schlimm, aber wahr: In den kommenden Wochen könnte mit einer neuerlichen Massenflucht aus dem kriegsgebeutelten Syrien zu rechnen sein, mit weiteren abertausenden Männern, Frauen, Kindern, alten Menschen, die vor Bombenhagel und Terror um ihr Leben rennen.

Davon zumindest ging man dieser Tage auf EU-Ebene aus, beim informellen EU-Außenministerrat in Amsterdam. "Mit großer Wahrscheinlichkeit kommt eine große Flut von Menschen auf uns zu", sagte dort der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn – und äußerte Furcht davor, was eine solche Entwicklung in Europa beim derzeitigen Stand der Dinge bewirken könnte.

Asselborn graut es

"Wenn man sich so umhört in Europa sollen die Menschen nicht sterben in Syrien, sondern dann erschossen werden in Europa. Mir graut es ein wenig vor der Vorstellung, die wir haben", wird Asselborn zitiert.

Nun sind diese Worte wohl bewusst überspitzt gewählt. Aber grundsätzlich hat der luxemburgische Politiker recht. Eine erneut sich verstärkende Flüchtlings-"Flut" würde Europa just zu einem Zeitpunkt erwischen, in dem alles unternommen wird, um die Zahl Ankommender zu reduzieren. Grenzschließungen auf dem Westbalkan, weitere Zaunpläne, der österreichische Obergrenzenbeschluss: Mit dem Argument, dass sich viele andere Migranten ("Wirtschaftsflüchtlinge") unter die Asylsuchenden mischen, werden die Schleusen immer mehr verengt.

Verständliche Rückzüge

Nun ist nicht unverständlich, dass die (wenigen) Staaten, die in der EU 2015 die Hauptverantwortung für die Fluchtbewegung trugen – unter ihnen Österreich –, kein weiteres Jahr mit vergleichbaren Herausforderungen auf sich nehmen wollen. Und es ist nachvollziehbar – leider – dass diese Staaten, unter ihnen Österreich, aus derzeitiger Sicht nur Einzelmaßnahmen setzen können, weil die Politik im Vereinten Europa in Flüchtlingsfragen chronisch unsolidarisch ist.

Das war zum Beispiel auch während der Ex-Jugoslawien-Kriege nicht viel anders, und Italien wurde mit den vielen Toten vor Lampedusa von den anderen EU-Mitgliedstaaten jahrelang völlig allein gelassen.

Dennoch, seien wir ehrlich, das restriktive Vorgehen in Österreich und anderswo wird vor allem von Angst diktiert: von der Angst der Regierenden vor einem Umkippen der Verhältnisse ins offen Rechtsextreme. Weil die "Ausländerfrage" in Europa ein offenes Tor in Richtung Autoritarismus und Diktatur ist: Ein Problem, das bisher nicht in seiner vollen Bandbreite erkannt und bekämpft wurde – was sich jetzt, in der größten Flüchtlingskrise seit 1945, rächt.

Angst als humanitäres Risiko

Solch eine Angst ist ein schlechter Ratgeber: Weil sie blind für die immensen humanitären Risiken der aktuellen Lage machen kann. Derzeit warten laut türkischen Berichten an der syrisch-türkischen Grenze, nahe der Stadt Azaz, mehrere Zehntausend Menschen, die dem Bombenhagel der syrisch-russischen Offensive in und um Aleppo gegen, wie es heißt, Aufständische entkommen konnten.

Was geschieht, wenn aus den Zehntausenden Hunderttausende werden sollten? Wo sollen alle diese Menschen hin? Macht die EU wirklich großteils die Schoten dicht, kommen sie wohl in riesige Auffanglager in der Türkei oder in den Balkanstaaten, wo sie ohne jede ernsthafte Asyl-, aber auch Rückkehrperspektive leben müssen.

Abgabe politischer Verantwortung

Das ist keine Lösung, sondern ein riesiges menschenrechtliches Risiko. Überlässt Europa der Türkei den Umgang mit der Flüchtlingskatastrophe und werden "überzählige" Asylsuchende auf dem Westbalkanweg retourgeschickt, so türmen sich am unteren Ende der Fluchtkette jener Menschen, die dem Krieg entkommen, die Probleme auf: eine Situation, die für Menschenrechtsverstöße prädestiniert erscheint. Man sollte nicht vergessen: Die schlimmsten humanitären Verwerfungen fanden jeweils im Windschatten bilateraler oder internationaler Verantwortung statt, sei es aufgrund von Fehlern, Ratlosigkeit oder aus Kalkül.