In "Wolfsegg" liegt Holz vor der Hütte: Oliver Reese vor der "Auslöschung"-Bühne (Premiere 25. Februar).

Foto: Matthias Cremer

STANDARD: Thomas Bernhards "Auslöschung", sein Opus summum, war nicht sein letztes Werk?

Reese: Nein, der Roman wurde 1981 fast fertiggeschrieben und dann fünf Jahre liegengelassen.

STANDARD: Der Erzähler Franz-Josef Murau möchte seine verdrießlichen Familienverhältnisse "auslöschen", wie um sie "loszuwerden". Das meint eine "Aufhebung" im berühmten mehrfachen Sinn: Alles Widerwärtige ist ihm so wichtig, dass er einen riesigen Roman darüber schreibt. Ein Paradoxon?

Reese: Der Roman kommt mir so vor wie eines dieser merkwürdigen Bilder von M. C. Escher. Man blickt auf einen Wasserlauf, und der fließt auf allen vier Seiten bergauf. Das geht eigentlich nicht, zugleich weiß man nicht, worin das Paradoxon begründet liegt. So ähnlich ist das auch in Auslöschung: Im Buch möchte der Erzähler Murau selber einen Bericht schreiben, eine Art Anti-Autobiografie unter dem Titel Auslöschung.

STANDARD: Das Buch, das vorliegt?

Reese: Wir Leser halten ein Buch in Händen, das den Titel Auslöschung trägt. Aus dem Ende des Romans geht immer deutlicher hervor, dass er den Bericht bildet, von dem in ihm die Rede ist. Doch am Ende ist Murau tot: geboren 1934, gestorben 1983. Ein Toter kann nicht heiraten, heißt es im Buch. Ein Toter kann aber eben auch keine Berichte schreiben.

STANDARD: Die Lösung des Rätsels?

Reese: Bernhard wollte vielleicht eine böse Pointe mit seinem eigenen Tod setzen. Meine These lautet: Er hat das Buch so lange nicht freigegeben, weil er mit der Möglichkeit gespielt hat, dass es posthum erscheint. These Nummer zwei: Er hat es dann doch nicht ausgehalten und wollte sehen, wie die Welt darauf reagiert! Vielleicht wollte er auch nur die Tantiemen beziehen, um die er immer so heftig mit seinem Verleger Unseld gestritten hat.

STANDARD: Das Paradoxon bleibt bestehen?

Reese: Natürlich löscht man mit nichts so wenig aus, wie wenn man ein dickes Buch darüber schreibt. Damit manifestiert man es ja gerade. Noch der misanthropischste Schriftsteller ist ein Utopist, der daran glaubt, dass es die Literatur noch gibt. Eine Geschichte, die es wert ist, dass man sie erzählt.

STANDARD: Ist der Erzähler, dem die eigene Familie angeblich so unleidlich ist, nicht auch ein Kollaborateur? Bernhard war von den Verhältnissen, die er beschimpft hat, doch immer zugleich fasziniert.

Reese: Dieser Murau ist kein Radikaler. Das ist ein – vielleicht selbstkritisches – Porträt von jemandem, der mit großem Aplomb sagt: "Zum Familienbegräbnis werden auch die Gauleiter kommen – aber ich gebe ihnen nicht die Hand!" Da erregt sich einer über 600 Seiten, und am Ende hat er noch immer keine Lösung. Er macht mit. Er betrachtet sich selbst als Figur in einem Stück Welttheater, das mitten in der größten österreichischen Provinz stattfindet. Es ist daher kein Zufall, dass der Bezug zu Hamlet hergestellt wird. Ein Kardinal kommt vor als "erzkatholischer Hamlet". Eine andere Figur zitiert Diderot.

STANDARD: Murau ist eine gespaltene Persönlichkeit?

Reese: Er selbst flieht nach Rom, aber er entkommt Wolfsegg nicht, nicht der österreichischen Enge. Diese Figur eines Weltverbesserers besitzt durchaus ihre Hybris. Im Gewand des Radikalen begegnen wir einem Mann, der ganz viel nicht hinkriegt. Das ist komisch und tragisch zugleich – und natürlich, mit Bernhard gesprochen, lächerlich.

STANDARD: Warum einen Roman wie diesen theatralisieren?

Reese: Zuerst einmal: Ich habe Romane auf die Bühne gebracht, als das durchaus noch nicht Mode war.

STANDARD: Eine mögliche These zur "Auslöschung": Der rhetorische Überdruck der Bernhard'schen Prosa drängt förmlich ins Performative. Sie haben aber auch schon Romane theatralisiert, denen kein überschäumender Sprachgestus eignet. Was wäre das Kriterium für die theatralische Handhabung solcher Riesenklötze?

Reese: Ich habe schon den Mann ohne Eigenschaften gemacht – klotziger geht es gar nicht. Ich habe Berlin Alexanderplatz inszeniert und Lolita. Der Ausgangspunkt war immer derselbe: Sprache. Ich gehe immer von Sprache aus. In jedem einzelnen dieser Romane ist der Autor ein Stilist von hohem Rang. Bei Bernhard interessiert mich, dass es eine ganz einfache, archaische Geschichte ist. Im Filmszenario Der Italiener ist der ganze Plot von Auslöschung im Kern schon enthalten. Ein Sohn kehrt heim, die Eltern sind gestorben, die Beerdigung muss durchgeführt werden, der Ort der Handlung ist abweisend und karg. Die Pointe, der Unfalltod der Eltern und des Bruders, steht in Auslöschung ganz am Anfang. Er braucht dann 600 Seiten, bis der Tsunami dieser Prosa sozusagen das Ufer erreicht.

STANDARD: Bei aller Liebe zur Romanform wollen Sie als neuer Intendant des Berliner Ensembles ab 2017/18 ausgerechnet das "Stückeschreiben wieder zukunftsfähig" machen. Ein Widerspruch?

Reese: Überhaupt nicht. Was läge näher an einem Theater, an dem Bertolt Brecht und Heiner Müller, wenn auch jeweils nur kurz, in der künstlerischen Leitung waren? In Deutschland gibt es seit einiger Zeit ein Problem mit dem gutgebauten, abendfüllenden Stück für die große Bühne. Ein solcher Engpass wäre im angelsächsischen Theater undenkbar. An der Behebung dieses Mangels wollen wir in Berlin arbeiten – in Gesprächen mit zahlreichen Autorinnen und Autoren, die wir bereits führen. (Ronald Pohl, 18.2.2016)