Das Innen hat Außenwirkung: Nicht nur auf den Sixpack kommt es an, die Funktion der Darmflora wurde bisher unterschätzt.

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Das Gewimmel könnte kaum größer sein: Milliarden von Organismen, überall, Vertreter hunderter verschiedener Arten. Ihr Lebensraum ist feucht und warm und das Substrat äußerst fruchtbar. Doch dieser Reichtum findet sich nicht etwa am Amazonas oder auf Borneo, sondern in unserem eigenen Körper – besonders im hinteren Darmbereich. Ganze Heerscharen von Bakterien gedeihen dort im Verborgenen. Ein Dschungel der Einzeller, dessen Bedeutung sich der Forschung nur langsam erschließt.

"Wir Menschen sind das, was man fachsprachlich Dickdarm-Fermentierer nennt", erklärt der Mediziner Martin Blaser von der New York University. Ein wesentlicher Teil unseres Essens besteht schließlich aus eigentlich unverdaulichem Material wie zum Beispiel Zellulose. Körpereigene Enzyme können es nicht verarbeiten.

Die Mikroben indes haben dafür die geeignete biochemische Ausstattung und zerlegen die großen Moleküle in kleinere, leicht nutzbare Komponenten. Das Meiste davon dient ihrer eigenen Versorgung, aber auch der Wirt bekommt seine Portion. "Sie entspricht zwischen fünf und 15 unserer gesamten Nährstoffversorgung", betont Blaser. Die Darmbesiedler sind somit nicht einfach nur Kostgänger. Sie spielen eine wichtige Rolle in der Ressourcenverwertung.

Solchen Erkenntnissen zum Trotz: Das Verhältnis zwischen Mensch und Bakterien ist fürwahr kein entspanntes. Die Einzeller galten lange Zeit, nicht ohne Grund, als heimtückische Schädlinge. Yersinia pestis beförderte einst in Gestalt des "Schwarzen Todes" circa ein Drittel der europäischen Bevölkerung ins Grab, während der Cholera-Erreger bis heute die Armen der Welt bedroht. Die Wissenschaft hat dem Treiben allerdings nicht tatenlos zugeschaut. Spätestens mit der Entwicklung von Antibiotika gerieten die Keime in die Defensive. Und das bringt offenbar neue Probleme mit sich.

Ergebnis der Evolution

"Es ist schlichtweg Ökologie", meint Martin Blaser. Homo sapiens mag zwar eine eigenständige Spezies sein, aber jeder von uns ist zugleich ein Kollektiv, gewissermaßen ein Superorganismus. Den rund 30 Trillionen körpereigenen Zellen stehen mehr als dreimal so viele Angehörige anderer Arten gegenüber. Haut, Nase, Ohren und Verdauungskanal bilden ein komplexes, zusammenhängendes Biotop, und die darin auftretenden Wechselbeziehungen sind das Ergebnis einer langen Koevolution.

Fachleute bezeichnen die Summe unserer ständigen Begleiter als das menschliche Mikrobiom. Global gesehen könnte es vielleicht bis zu einer Million verschiedene Spezies umfassen, sagt Blaser. "Ich schätze, dass die Mehrheit davon nur auf Menschen vorkommt."

Martin Blaser widmet sich bereits seit vielen Jahren der Erforschung des menschlichen Mikrobioms und ist Autor des 2014 erschienenen Buches "Missing Microbes". Sein Fazit: Die bemerkenswerte Vielfalt ist ernsthaft bedroht. Der weitverbreitete Einsatz von Antibiotika führt bei so manchen gefährlichen Krankheitserregern zur Entstehung von Resistenzen, wodurch die Medikamente gegen sie kaum noch Wirkung zeigen.

Gleichzeitig jedoch fordern die Präparate auch zahlreiche unschuldige Opfer. Eine im vergangenen Jahr veröffentlichte Studie zeigt signifikante Unterschiede in der Darmflora von Stammesangehörigen in Papua-Neuguinea und Einwohnern der USA auf. Demzufolge kommen die häufigsten Bakteriengattungen zwar in beiden Gruppen vor, die Biodiversität ist aber bei den Papuas mit insgesamt 1520 Spezies deutlich höher als bei den US-Probanden mit 931 Arten.

Die Differenz dürfte allerdings nicht nur den Antibiotika – diese werden auf Papua-Neuguinea inzwischen auch zunehmend eingenommen – sondern zusätzlich dem "westlichen Lebensstil" geschuldet sein. Der Trend zum Kaiserschnitt spielt diesbezüglich eine wichtige Rolle, meint Martin Blaser. Bei der natürlichen Geburt durch die Vagina kann die Mutter ihre Bakterien an das Kind weiterreichen. Das Baby bekommt so seine Erstausstattung typisch menschlicher Bakterien. Später hinzukommenden Keimen, darunter auch möglichen Pathogenen, könnte der Zugang dadurch erschwert sein.

Doch dies ist wahrscheinlich nicht der einzige Vorteil einer mütterlichen Mikrobenvererbung. Der Nachwuchs bekommt auch zahlreiche nützliche Symbionten mit auf den Lebensweg. Für die Gesundheit ein echter Pluspunkt.

Die Crux der Doppelrolle

Ein hochinteressanter Vertreter dieser Helferschar ist Oxalobacter formigenes. Das Darmbakterium gehört zu den Gram-Negativen und hat, wie sein Name bereits erahnen lässt, eine ausgeprägte Vorliebe für Oxalsäure. Letztere ist recht reichlich in diversen Obst- und Gemüsesorten enthalten, fällt aber auch in unseren Zellen beim Abbau von Aminosäuren an. Die Entsorgung erfolgt über das Blut und die Nieren in den Urin. Zu hohe Gehalte können jedoch zur Entstehung von Nierensteinen und Gicht führen.

Wer also viel Oxalsäure mit der Nahrung aufnimmt, trägt ein höheres Risiko, an diesen Leiden zu erkranken – wenn Oxalobacter nicht wäre. Diese Mikroben wandeln im Dickdarm eintreffende Oxalsäure-Ionen in Kohlendioxid um und nutzen die dabei frei werdende chemische Energie für ihren eigenen Stoffwechsel. Je weniger Oxalsäure im Darm, desto geringer auch die Menge, die ins Blut gelangt. Die Konzentration im Körper wird sozusagen gepuffert.

In den USA indes leiden immer mehr Menschen an Nierensteinen – sogar Kinder. Möglicherweise fehlt ihnen Oxalobacter. Vor kurzem hat Blaser mit Kollegen die Stuhlproben von 94 gesunden, jungen US-Amerikanern analysiert. Nur 29 davon enthielten Oxalobacter- formigenes-DNA. Ganz anders sieht es bei den Yanomami-Ureinwohnern in Südvenezuela aus. Praktisch jeder von ihnen trägt sie in sich.

Auch einen bisher gefürchteten Krankheitserreger sieht Martin Blaser in einem neuen Licht: Helicobacter pylori. Sein Part in der Bildung von chronischen Magengeschwüren und Magenkrebs gilt als gesichert. Blaser weist gleichwohl noch auf einen weiteren Zusammenhang hin.

Die radikale Bekämpfung von Helicobacter pylori geht anscheinend mit der Zunahme von Reflux, sprich: Sodbrennen, einher. Das wiederum erhöht das Risiko für Speiseröhrenkrebs. Die exakten Hintergründe sind noch unklar, aber Helicobacter pylori scheint über eine chronische Entzündung der Magenschleimhaut die Säureproduktion zu bremsen. Der Keim spielt somit eine Doppelrolle, schützend und schädigend.

Die von den Mikroben ausgelöste Entzündungsreaktion hilft vielleicht sogar gegen die Entstehung von Autoimmunerkrankungen. Forscher stießen bereits vor zehn Jahren auf eine umgekehrte Korrelation zwischen Asthma und der Präsenz von Helicobacter pylori. Die Bakterien könnten eine immunmodulierende Wirkung haben – das Ergebnis einer langen Anpassung an das Leben im Magenmilieu. "Ich sehe Helicobacter als Teil unseres Abwehrsystems", sagt Blaser.

Moderne Plagen

Ob man die Keime auslöscht oder nicht, sei für jeden Patienten individuell zu entscheiden. Viele Mediziner stehen seiner Position allerdings äußerst skeptisch gegenüber. Blaser plädiert nicht generell gegen den Einsatz von Antibiotika. Die Medikamente haben schließlich Millionen von Menschenleben gerettet und tun das noch immer.

Der Experte kritisiert jedoch ihre gedankenlose Verabreichung und den Einsatz in der Tierhaltung. Im menschlichen Mikrobiom dagegen lösen die Breitbandbombardements oft schwere Schäden aus. Ein unbeachteter Artenschwund mit potenziell weitreichenden Folgen.

Nicht nur Reflux, Allergien und Asthma könnte durch den Verlust an mikrobieller Biodiversität Vorschub geleitstet werden, es gibt auch zunehmend Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Adipositas und der Verarmung unserer Darmflora. Vor allem bei Kindern. Diabetes steht ebenfalls auf der Verdachtsliste.

Martin Blaser nennt diese immer stärker um sich greifenden Krankheiten "moderne Plagen". Es sei an der Zeit, unsere Bakterien als wichtige Partner zu sehen. Millionen Jahre Evolution können nicht einfach ignoriert werden. (Kurt de Swaaf, CURE, 16.5.2016)