Die Britin Laura Mulvey hat in den 1970er-Jahren die feministische Filmtheorie und -praxis in den Fokus gerückt. Sie ist Professorin für Film-und Medienwissenschaft am Birkbeck College, University of London und Filmemacherin.

Foto: Karen Knorr

STANDARD: Film schafft Realitäten. Die Bilder, die wir konsumieren, prägen unsere Vorstellungen und Meinungen. Noch immer ist das Filmschaffen von Frauen stark unterrepräsentiert. Was passiert, wenn die Perspektiven von Frauen so wenig vorkommen?

Mulvey: Das ist eine sehr gute Frage. Als ich gemeinsam mit anderen 1972 ein Filmfestival organisierte und die feministische Filmpraxis in den Fokus rückte, dachten wir, dass Frauen zu Beginn des 21. Jahrhunderts längst 50 Prozent der Filme machen würden. Es ist natürlich extrem enttäuschend, dass das heute nicht der Fall ist. Über diese Unterrepräsentanz von Frauen wurde viel geschrieben.

Selbst wenn Frauen erfolgreiche Filme machen, ist es noch immer unglaublich schwierig, in dieser Branche Karriere zu machen. Helfen kann hier eine kontinuierliche politische Unterstützung für Frauen in der Filmbranche. In Frankreich gibt es etwas mehr filmschaffende Frauen, weil es auch staatliche Förderungen in diese Richtung gibt. Dort, wo es staatliche Förderprogramme gibt, ist auch der Anteil von Frauen in der Filmbranche höher – das schafft mehr Spielraum.

Wir haben es hier natürlich auch mit einer kontinuierlichen Frauenfeindlichkeit zu tun. Man muss nur auf die bestehenden Verhältnisse der Ungleichheit und Diskriminierung schauen.

STANDARD: Würde die Einführung einer Quote hier Abhilfe schaffen?

Mulvey: Ja, eine Quote würde hier ganz pragmatisch helfen. Es gibt dafür einige Belege, wenn wir beispielsweise nach Skandinavien schauen. Ich denke, wenn es nicht anders möglich ist, etwas zu bewirken, dann hilft sicher die Quote.

STANDARD: Das Hollywood der Stummfilmära war maßgeblich von Frauen bestimmt. Als das Filmgeschäft lukrativer wurde, waren immer weniger Frauen an entscheidenden Positionen zu finden.

Mulvey: Ja, das ist immer noch so. Das Geschlechterverhältnis ist heute noch extrem unausgewogen, zumindest was den Mainstream-Film betrifft. Mehr Frauen finden wir im avantgardistischen Kino und im unabhängigen Sektor. Hier haben Frauen ihr großartiges Talent gezeigt. Ein herausragendes Beispiel dafür ist Chantal Akerman, die traurigerweise letztes Jahr verstarb.

STANDARD: In den 40 Jahren zwischen Ihrem vielbeachteten Essay "Visuelle Lust und narratives Kino" und heute hat sich die feministische Filmtheorie als universitäres Fach etabliert. Ihr Artikel wird von vielen als Gründungstext bezeichnet. Was hat sich seither verändert?

Mulvey: Als ich 1974 meinen Aufsatz schrieb, gab es ein feministisches Bewusstsein und eine Frauenbewegung, aber es gab keine Filmwissenschaften. Das hat sich verändert. Und: Ich beobachte, dass junge Frauen heute ein neues starkes feministisches Bewusstsein haben. Ich bin mir nicht sicher, ob das daher rührt, dass sich junge Leute generell der gegenwärtigen Probleme bewusst sind, und ob das ökonomische und soziale Klima dieses Bewusstsein fördert. Zweifellos sind junge Frauen viel direkter und sensibilisierter gegenüber Sexismus, als das noch in meiner Generation der Fall war. Junge Frauen benennen Sexismus, sobald sie ihn bemerken – es gibt eine große Wut.

STANDARD: Mit Ihrem Aufsatz haben Sie auch die Psychoanalyse für die feministische Theorie fruchtbar gemacht. Ist die Repräsentationsordnung, die Darstellung der Geschlechter im Film, durchlässiger geworden?

Mulvey: Als ich diesen Text in den frühen 1970er-Jahren schrieb, hatte ich das Hollywoodkino und sein Studiosystem vor Augen. Ich schrieb über die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und die als Sexualobjekt zur Schau gestellte Frau. Ich denke, dass es hier generell wenig Spielraum für weibliche Identifikationsfiguren gibt. Aber es gibt bestimmte Arten von Filmen, wo Frauen eine aktive Rolle zuteil wird. Etwa in den computersimulierten Streifen der 1990er-Jahre, als Filme wie "Crouching Tiger, Hidden Dragon" produziert wurden. Mit faszinierenden Spezialeffekten angereichert, gibt es es hier diese erstaunliche Frau, eine Heldin, die fliegen und dabei kämpfen kann, genauso wie ein Mann. Ich frage mich öfter, ob es eine Verbindung gibt zwischen dem Seherlebnis einer aktiven Frauenrolle und dem Spektakel der visuellen Effekte.

STANDARD: Inwiefern hat die Digitalisierung den Blick auf den weiblichen Körper verändert?

Mulvey: Die sexistische Aneignung weiblicher Körper hat sich in der digitalen Ära verändert, sie ist allerdings immer noch ein gravierendes Problem. Innerhalb der Frauenbewegung dachten wir in den 1970er-Jahren, dass die Ausbeutung des weiblichen Körpers zu Beginn des 21. Jahrhundert sich deutlich abgeschwächt haben würde. Aber mein Eindruck ist, dass diese geairbrushten weiblichen Körper noch mehr zur Ware geworden sind. Diese Entwicklung hat gefährliche Folgen für junge Frauen. Die Ausbeutung des weiblichen Körpers trifft auch immer mehr Mädchen und junge Frauen.

STANDARD: Wie würden Sie den Status quo beschreiben?

Mulvey: Die fortwährende Ausbeutung von Bildern von Frauen einerseits und die eklatante Unterrepräsentanz von Frauen in der Filmbranche andererseits sind zwei wichtige Themen, auf die wir nicht genug hinweisen können. Bis Frauen tatsächlich ihre eigenen Bilder auf die große Leinwand projizieren und die Hälfte der Filmgeschichten erzählen, ist es noch ein langer Weg im Kampf gegen das Patriarchat. (Christine Tragler, 17.4.2016)