Auf dem Weg von der georgischen Hauptstadt Tiflis zu dem etwa anderthalb Stunden entfernten Dorf Jariascheni ist von weitem ein russischer Militärstützpunkt zu sehen. Es ist in der Region entlang der sogenannten Verwaltungslinie zwischen Georgien und der abtrünnigen georgischen Provinz Südossetien kein seltener Anblick. "Die russische Präsenz ist schließlich allgegenwärtig", meint Tinatin Chidascheli, die georgische Verteidigungsministerin.

Ein russischer Militärstützpunkt in Sichtweite des georgischen Dorfs Jariascheni.
Foto: derstandard.at

Die Verwaltungslinie wird laut Chidascheli zudem seit dem Südossetien-Krieg 2008 regelmäßig – wenn auch nur stückweise – ins Landesinnere verschoben. In manchen Fällen befanden sich ganze Dörfer über Nacht plötzlich auf der anderen Seite der Linie. Dabei trennt die Linie nicht anhand ethnischer Parameter: Sowohl in Südossetien als auch in Georgien leben Menschen unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit.

Achtung! Staatsgrenze!

20 Prozent des georgischen Territoriums seien bereits besetzt, und Russland verfolge in der Region weiterhin eine Politik schleichender Annexion, heißt es aus offiziellen Kreisen in Georgien: Neue Grenzlinien werden gezogen, Zäune angebracht, und die grünen Grenzschilder an der Verwaltungslinie wandern in regelmäßigen Abständen.

Die Schilder sind beidseitig in unterschiedlichen Sprachen beschriftet: "Achtung! Staatsgrenze! Der Durchgang ist verboten!", heißt es in Südossetien in russischer und ossetischer Sprache, auf der Rückseite steht dasselbe auf Englisch und Georgisch. Die meisten Dorfbewohner in der Region sprechen kein Englisch, weshalb relativ klar ist, dass die Warnung an internationales Publikum gerichtet ist.

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"Achtung! Staatsgrenze. Der Durchgang ist verboten", ist hier zuerst in englischer Sprache zu lesen.
Foto: Reuters/Zurab Kurtsikidze

Dies hängt mitunter damit zusammen, dass die EU seit den kriegerischen Auseinandersetzungen im August 2008 im Rahmen der Beobachtungsmission EUMM rund 200 zivile Beobachter in Georgien stationiert hat, die die Aufgabe haben, die Konfliktregionen in Georgien rund um die abtrünnigen Gebiete Südossetien und Abchasien zu stabilisieren und auf die Einhaltung des Waffenstillstandsabkommens zwischen Russland und Georgien zu achten. Da die De-facto-Regierung in Südossetien internationalen Beobachtern jedoch den Zutritt in die Republik verwehrt, beschränkt sich die Tätigkeit der Mission auf die georgische Seite der Grenzlinie.

Neue Grenzlinien

Die meisten Staaten – abgesehen von Russland, Nicaragua, Venezuela und dem Inselstaat Nauru – erkennen die Staatsgrenze zwischen der selbsternannten unabhängigen Republik Südossetien und Georgien zwar nicht an, für die Bewohner der Grenzregion und die Mitarbeiter der EUMM-Beobachtungsmission in Georgien ist es jedoch durchaus wichtig zu wissen, wo die Grenze verläuft, um diese nicht irrtümlich zu übertreten.

Das Dorf Jariascheni befindet sich etwas mehr als eine Autostunde von der georgischen Hauptstadt Tiflis entfernt. Die Bewohner sehen sich regelmäßig mit "wandernden" Grenzen konfrontiert.

Im Dorf Jariascheni ist vor kurzem ebenfalls eine neue Linie aufgetaucht. Wenngleich sie nicht wie eine Grenze aussieht, ist es trotzdem ratsam, nicht zu nahe an sie heranzutreten. Mit einigen Metern Respektabstand ist dennoch ein rund anderthalb Meter langer brauner Streifen bestehend aus gerodeten Bäumen und aufgegrabener Erde zu erkennen, der geradewegs durch einen Obstgarten verläuft.

Offiziell wird der Streifen nicht als neue Staatsgrenze bezeichnet, im Gegenteil: Die russischen Soldaten auf der südossetischen Seite sprechen von einem Brandschutzstreifen zur Sicherheit der lokalen Bevölkerung. Ob Grenze oder Brandschneise, den Dorfbewohnern ist jedenfalls bewusst, dass beim Übertreten der Linie mit Konsequenzen zu rechnen ist.

Neue Grenzlinien, wie auf diesem Bild, tauchen in regelmäßigen Abständen in den an Südossetien grenzenden Gebieten auf.
Foto: derstandard.at

"Russland ist mein zweites Zuhause"

Auch der fünfundsiebzigjährige Elisbar Mestumrischwili achtet darauf, dass seine beiden Kühe neben der Linie grasen und nicht auf die andere Seite wandern. Sein Haus befindet sich direkt an der Grenzlinie und er führe ein friedliches Leben. Sein Sicherheitsgefühl werde durch die Präsenz russischer Soldaten auf der anderen Seite der Linie verstärkt. "Russland ist mein zweites Zuhause", verrät der Kleinbauer, der selbst kaum Russisch spricht.

"Ältere Menschen sagen das oft, was aber nicht heißt, dass sie prorussisch eingestellt sind. Wenn sie von Russland sprechen, meinen sie meist die Sowjetunion", fügt die Dolmetscherin schnell in beinahe entschuldigendem Ton hinzu.

In diesem Moment mischt sich ein weiterer Dorfbewohner, Davit Gokiaschwili (43), in das Gespräch ein. Er glaubt, Mestumrischwili habe aufgrund der Nähe seines Hauses zur Verwaltungslinie Angst, offen zu sprechen und vertritt eine andere Meinung: "Ich wurde vor zwei Jahren auf der anderen Seite der Linie während der Ernte verhaftet. Durch die Grenzlinie habe ich insgesamt 1,5 Hektar meines Grundstücks verloren. Daher muss ich die Linie übertreten, um ernten zu können." Das gesamte Dorf habe ihm zufolge rund 50 Hektar Grund verloren, eine beträchtliche Fläche in einer Region, die primär von Landwirtschaft lebt.

Der Kleinbauer Elisbar Mestumrischwili fühlt sich in der Grenzregion sicher, wenngleich er tunlichst darauf achtet, seine Kühe auf georgischer Seite zu behalten.
Foto: derstandard.at

"Die Russen werden nicht aufhören, mehr Land an sich zu reißen"

In den letzten Jahren ist es zahlreichen Dorfbewohnern im Grenzgebiet wie Gokiaschwili ergangen. Durch die Zweiteilung des Landes landen immer wieder Kühe auf der anderen Seite, da sie schließlich an gewohnten Stellen grasen wollen. In diesen Fällen müssen die Landwirte ihr Vieh zurückholen und laufen Gefahr, von südossetischen Soldaten entdeckt zu werden. Dann drohen Geldstrafen in der Höhe von 2.000 Rubel; mehrmalige illegale Grenzübertritte können tage- oder monatelange Haftstrafen und Gerichtsverfahren zur Folge haben.

Gokiaschwilis Haft in Südossetien sei jedenfalls ruhig verlaufen: "Ich habe mich gut mit den Osseten verstanden. Ihr Problem ist der Kontakt mit den Russen, die sich einmischen und nicht aufhören werden, mehr Land an sich zu reißen." (Judith Moser aus Tiflis, 20.4.2016)