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Bewohner von Attawapiskat nehmen an einer Mahnwache teil. In den vergangenen Monaten kam es dort zu zahlreichen Suizidversuchen.

Foto: Reuters / Chris Wattie

Im isolierten kanadischen Indianerreservat Attawapiskat werden die Menschen von Suizidwünschen heimgesucht, als ginge ein tödliches Virus um. Am 11. April entdeckte der Stammesrat einen entsprechenden Pakt zwischen zwanzig Bewohnern des Reservats, darunter dreizehn Kinder. Sie hatten sich auf Facebook abgesprochen. Nur zwei Tage zuvor hatten sich elf Stammesmitglieder in der entlegenen Siedlung im Norden der Provinz Ontario umzubringen versucht. Daraufhin erklärte Häuptling Bruce Shisheesh den Notstand für sein Reservat. "Attawapiskat braucht Hilfe", sagte er Politikern und Journalisten.

Seit vergangenem September hat es in dem isolierten Dorf Attawapiskat rund hundert Suizidversuche gegeben. Das jüngste Opfer unter den rund 1500 Bewohnern war elf Jahre alt, das älteste 71.

Die Suizide in Attawapiskat fingen mit einem 13-jährigen Mädchen namens Sheridan Koostachin an, das in der Schule verspottet und bedrängt wurde. Nach Sheridans Suizid im Oktober – sie erhängte sich – hätten die Mitschüler nicht die nötige Hilfe bekommen, um mit ihrer Trauer fertigzuwerden, sagte Jackie Hookimaw, eine Tante des Mädchens. Deshalb hätten sie ebenfalls versucht, sich das Leben zu nehmen.

"Wollte dem Schmerz ein Ende bereiten"

Die 17-jährige Syvanna erzählte der Zeitung National Post von Schikanen und Mobbing durch Mitschüler. Sie hatte versucht, sich im Jänner mit einer Schere umzubringen – Mutter und Schwester konnten eingreifen. "Ich wollte einfach dem Schmerz ein Ende bereiten", sagte Syvanna.

Auch die Familie von Häuptling Shisheesh war von der Suizidserie betroffen: "Ich habe Verwandte, Vettern, Freunde, die sich umbringen wollten", sagte er. Die Gründe dafür sind vielfältig. Die armseligen, unzulänglichen Unterkünfte in Attawapiskat hatten schon früher Schlagzeilen gemacht. Laut dem Häuptling würden in manchen Häusern bis zu vierzehn Menschen auf engstem Raum leben. Dazu kommt die Drogenabhängigkeit: Bewohner versuchen ihren Schmerz nach sexuellem oder physischem Missbrauch mit Suchtmitteln zu unterdrücken, so Shisheesh: "Und wenn sie nicht das Geld für Drogen haben, versuchen sie es mit Suizid."

Gewalt in Internaten

Studien zufolge gehört Suizid zu den häufigsten Todesursachen unter den 1,4 Millionen Ureinwohnern Kanadas, die rund vier Prozent der Bevölkerung ausmachen. Die eingeborenen Kanadier werden auch häufiger Opfer von Gewalt, Armut und Sucht. Zu den Missständen hat vor allem sexuelle und physische Gewalt in ehemaligen von Kirchen und Regierungen geführten Internaten für indianische Kinder beigetragen.

In weltabgeschiedenen Reservaten wie Attawapiskat herrschen zudem hohe Arbeitslosigkeit und wenig Hoffnung auf wirtschaftliche Entwicklung. Drogen werden in die Siedlung geschmuggelt. Als vor kurzem die für die Eingeborenen Kanadas verantwortliche Ministerin Carolyn Bennett das Reservat besuchte, fragte sie ein Bewohner: "Warum leben wir wie in einem Drittweltland?"

Premierminister Justin Trudeau hat das Problem erkannt und die Verbesserung der Lebensqualität der Ureinwohner zu einer seiner Prioritäten erklärt. Dafür stellt er umgerechnet über eine Milliarde Euro bereit. Die frühere konservative Regierung hatte trotz eines kritischen UN-Berichts kaum etwas gegen die Misere in den Reservaten unternommen.

Regierung schickt Hilfspersonal

Trudeaus Kabinett reagierte auf Attawapiskats Hilferuf umgehend und schickte eine Schar psychologischer Fachkräfte und geschultes Hilfspersonal in das Indianerreservat. Sie ersetzen vier Sozialarbeiter, die wegen der Suizidserie völlig ausgebrannt sind. (Bernadette Calonego aus Vancouver, 30.4.2016)