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Noch nie gab es in den USA größere Biervielfalt: Aktuell zählt man dort 4.269 Craft Breweries.

Foto: Getty Images / Denver Post / RJ Sangosti

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Das Anchor Liberty Ale gilt als Flaggschiff der Craft-Beer-Revolution in den USA.

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Man könnte die Geschichte des amerikanischen Biers mit der Mayflower beginnen lassen, die am 21. November 1620 bei Cape Cod notlanden musste, weil an Bord das Bier ausgegangen war. Oder bei den Bieren der amerikanischen Ureinwohner, die den gestrandeten Pilgrim Fathers mit nach uralten Rezepten Selbstgebrautem über den Winter halfen. Man könnte von Samuel Adams erzählen, einem der führenden Köpfe der Boston Tea Party – und von dessen Eigeninteressen als Braumeister. Vom Bierrezept des George Washington und von der Prohibition.

Aber wenn Julia Herz, die Sprecherin der Brewers Association, über Biergeschichte redet, dann setzt sie viel später an. Bei der Craft Brewers Conference in Philadelphia Anfang Mai stellte sie vor 13.000 Teilnehmern die Kooperation ihres Interessenverbands mit der einflussreichen Smithsonian Institution vor – die Historie des Bieres und sein Einfluss auf die amerikanische Gesellschaft sollen neu geschrieben werden, und zwar im Sinne der Revolutionäre.

Beginn vor vier Jahrzehnten

Als solche sehen sich die Träger der Craft-Beer-Bewegung: Vor vier Jahrzehnten sind sie angetreten, die Bierwelt zu verändern – und sie haben sie verändert. Zuerst in Amerika, aber beispielgebend auch in anderen Ländern, vor allem jenen mit verkümmerter Bierkultur und solchen, die dem Bier nie wirklich Beachtung geschenkt haben, wie Italien, Norwegen oder auch Vietnam.

Geht man vom Gros der amerikanischen Kleinbrauer aus, beginnt die eigentlich zu erzählende Biergeschichte der USA Mitte der 1960er-Jahre – und die Ehre gebührt Fritz Maytag, der 1965 die Anchor Brewing Company in San Francisco kaufte, eine heruntergekommene Mittelstandsbrauerei, die für ihre Qualitätsschwankungen bekannt war.

California Common

Maytag brachte die Brauerei auf Vordermann und konzentrierte sich zunächst auf das Steam Beer, ein bernsteinfarbenes, gut gehopftes Lagerbier, das mit Lagerhefe vergoren wird. Die Vergärung erfolgt bei etwa 16 Grad Celsius, also erheblich wärmer als die normale Gärtemperatur für Lagerbiere. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass es in der Bay Area kein natürlich vorkommendes Eis gibt und die Jahresdurchschnittstemperatur in San Francisco eben bei 61 Grad Fahrenheit (gleich 16 Grad Celsius) liegt. Das Bier ist daher auch erheblich esteriger, als wir das gewohnt sind – und ein Vorbild für den Stil "California Common Beer".

Die eigentliche Stunde des Craft-Biers schlug aber 1975, als Maytag das Liberty Ale auf den Markt brachte – das erste Bier, das wir heute dem Bierstil "American IPA" zuordnen würden: obergärig und mit der damals gerade auf den Markt gekommenen Hopfensorte Cascade gehopft. Gebraut wurde es aus einem höchst patriotischen Anlass, den der republikanische Präsident Gerald Ford zelebrieren ließ: Im April 1975 jährte sich die amerikanische Revolution zum 200. Mal. Am 18. April 1775 hatten Bürger von Boston beobachtet, dass sich englische Truppen in Booten bereitmachten, gegen Aufständische in Concord und Lexington loszumarschieren – mit einem geheimen Signal wurde Paul Revere alarmiert, der in seinem historischen "Midnight Ride" die Minutemen alarmierte, die daraufhin die Briten zurückschlagen konnten.

Die Bierwelt verändert

Genau auf dieses Ereignis, den Startschuss zur amerikanischen Revolution, beruft sich auch die amerikanische Bierrevolution. Man konnte gar nicht mitzählen, wie oft das Wort "Revolutionär" bei der heurigen Craft Brewers Conference gefallen ist. Die Herren und Damen Revolutionäre sind stolz darauf, die Bierwelt in den USA verändert zu haben. Diese sah in den 1970er-Jahren tatsächlich so aus, wie sie heute noch in in Europa gängigen Vorurteilen weiterlebt: massenhaft helles, schwach gehopftes und hochvergorenes Lagerbier – die Sorten schon deshalb schwer unterscheidbar, weil sie allesamt nach (fast) nichts schmecken.

Natürlich gibt es solches Bier weiterhin, es hat auch heute noch gut 80 Prozent Marktanteil – allerdings weit weniger Anteil am Bierumsatz. Denn die Klein- und Mittelstandsbrauereien und die tausenden Brewpubs haben mit ihren wesentlich teureren Bieren ein überproportional großes Stück vom Kuchen abgeschnitten. 4.269 Craft Breweries gab es mit Jahresende 2015 in den USA; womit die Rekordzahl aus dem Jahr 1873 überschritten wurde, als beinahe jedes Dorf eine Brauerei hatte, insgesamt waren das zu jener Zeit 4.131 Braustätten.

Dann kam die industrielle Konsolidierung – wie überall auf der Welt entstanden auch in den USA Großbrauereien, es wurde gewaltiges Kapital angehäuft. Dieses Kapital wurde dann auch benötigt, um nach den 14 Jahren der Prohibition die (zwischenzeitlich auf Malzzuckerl- oder gar Käseproduktion umgerüsteten) Brauhäuser wieder auf Vordermann zu bringen. Es gelang hauptsächlich den Großbetrieben. Und tatsächlich fußt der Erfolg der ganz großen Konzerne Anheuser-Busch, Miller und Coors – vorher auch noch Schlitz, Rheingold und Pabst – auf leicht zu trinkenden, für unseren Gaumen wässrig schmeckenden Lagerbieren.

Erfahrungen aus der Prohibitionszeit

Wo aber Einheitsgeschmack herrscht und Importe wie Heineken und später Corona als geschmacksintensive Alternative gelten, entsteht auch eine Gegenbewegung. Weil in der Prohibitionszeit in vielen Familien illegal, aber mehr oder weniger unbehelligt von den Behörden gebraut werden konnte, war die Erfahrung, dass man Bier auch selbst herstellen kann, im allgemeinen Bewusstsein verankert.

Man schätzte in den 1970er-Jahren, dass etwa jeder hundertste amerikanische Haushalt gelegentlich selbst Bier braut. Denn, nicht ganz ungewöhnlich für die Doppelbödigkeit amerikanischer Regelungen: Es gab die Zutaten zum Brauen – diverse Malze, sehr unterschiedliche Hopfensorten und ebenso verschiedene Hefestämme – auch in den Jahrzehnten der Illegalität in Haushaltsmengen zu kaufen; und das entsprechende Equipment gleich dazu.

In Bars traf man immer wieder auf stolze Homebrewers, die mit verschwörerischer Miene ein Fläschchen Selbstgebrautes hervorzauberten und auserwählten Bierkennern zur Verkostung anboten. Dass dieses tradierte Wissen nach der offiziellen Freigabe des Homebrewing – im Gesetz mit der Nummer H.R. 1337, unterzeichnet von Jimmy Carter 1978 – eine beachtliche Aufwertung erfahren hat, ist unbestritten.

Viele Heimbrauer haben alte Rezepte und neue Hopfensorten kombiniert und in der Garage zu brauen begonnen. Einige heute hochangesehene Brauereien wie Lakefront in Milwaukee, Stone damals noch in San Marcos und Victory in Downingtown haben so angefangen und daraus Unternehmen geschaffen, die inzwischen als Großbrauereien gelten dürfen. Ihre Ansätze waren tatsächlich revolutionär, nicht nur ökonomisch – David gegen Goliath gibt immer eine gute Geschichte ab. Noch besser ist aber das, was geschmacklich entstanden ist: Die stark gehopften India Pale Ales sind längst mehr als die Wiederbelebung eines historischen englischen Bierstils – mit neuen Hopfensorten gibt es immer mehr Nuancen und Interpretationen dieses mit dem Liberty Ale von 1975 zum Flaggschiff der Bierrevolution gewordenen Bierstils. Stouts und Porters gibt es in hunderten Variationen, ebenso wurden belgische und deutsche Bierstile (gelegentlich bis zur Unkenntlichkeit) amerikanisiert.

Volle Bierregale

Die Biertrinker freut es: Nie zuvor konnte man so viele so unterschiedlich schmeckende Biere – zumeist in technisch einwandfreier Qualität – so leicht bekommen. Die Kühlregale biegen sich unter immer neuen Kreationen, viele innerhalb, etliche aber auch sehr weit außerhalb der engen Grenzen des Reinheitsgebots.

Andererseits ist die Geschichte noch nicht zu Ende, denn die Revolution belohnt ihre Kinder – oder zumindest einige davon: In den vergangenen Monaten haben mehrere bekannte Craft Brewer den Verlockungen der verachteten Megabrauer nachgegeben und Anteile an ihren Brauereien verkauft. Das bedeutet für die erfolgreichen Verkäufer nicht nur viel Geld, sondern auch eine bessere Marktposition dieser ohnehin schon bedeutenden Marken. Die größeren unter den unabhängigen Craft Brewern halten wacker dagegen und bauen neue Braustätten, die durchaus mit dem oberen Mittelstand in Österreich an Größe und technischer Qualität mithalten können. Für die kleineren Brauer wird der Markt aber enger – irgendwann ist nicht mehr genug Platz in den Regalen der Supermärkte.

Am Ende könnte es sein, dass die momentan so lebendig wirkende Craft-Beer-Szene in einige wenige große Player und sehr viele, im Einzelnen aber unbedeutende Brewpubs aufgespaltet wird. Es gilt also, die Vielfalt zu genießen, solange sie noch besteht. (Conrad Seidl, RONDO, 22.5.2016)