In dem Gotthard-Basistunnel werden seit Monaten Testfahrten durchgeführt.

Foto: APA/KEYSTONE/ALEXANDRA WEY

Zürich – Schweizer sind nicht leicht aus der Ruhe zu bringen. Doch wenn es um technische Großtaten geht, kennt die Begeisterung kaum Grenzen. Der Jubel zur Eröffnung des Gotthard-Basistunnels ist auch berechtigt. Er wird zum wichtigsten Bindeglied der Verkehrsachse zwischen Nordsee und Mittelmeer.

Kein Wunder also, wenn jetzt einmal mehr von "historischen Dimensionen" die Rede ist – und vom "Stolz einer ganzen Nation": Am 1. Juni wird mit einem großen Staatsakt der längste Eisenbahntunnel der Welt offiziell eröffnet – der 57 Kilometer lange Gotthard-Basistunnel zwischen Erstfeld im Kanton Uri und Bodio im Südkanton Tessin. Mehrere Tage lang gibt es danach noch Volksfeste.

Sieben Kilometer länger als der Eurotunnel

Das Schweizer Jahrhundertbauwerk, das sieben Kilometer länger ist als der Eurotunnel unter dem Ärmelkanal, könnte Verantwortliche für Großprojekte in anderen Ländern vor Neid erblassen lassen: Trotz der gewaltigen Dimensionen wurde das größte Investitionsprojekt in der Geschichte der Eidgenossenschaft mit der sprichwörtlichen Präzision eines Schweizer Uhrwerks durchgezogen – ohne große Kostenüberschreitungen und am Ende sogar ein Jahr früher als 2007 nach einer nötigen Zeitplan-Korrektur geplant.

12,2 Milliarden Franken (elf Milliarden Euro) waren allein für das Kernstück des Gotthard-Basistunnels veranschlagt. Das gesamte Alpentransit-Projekt – mit weiteren Röhren durch den Lötschberg und dem Ceneri-Basistunnel zwischen Bellinzona und Lugano (Inbetriebnahme Ende 2020) sowie für die Gleisanlagen dazwischen – soll 23 Milliarden Franken kosten.

So viel Geld kann keine eidgenössische Regierung ausgeben, wenn das Volk nicht ausdrücklich zustimmt. Wie bei allem, was in der Schweiz von nationaler Bedeutung ist, gab es auch zum Gotthard-Basistunnel ein Referendum. Lange bevor die gigantischen Tunnelbohrmaschinen dem Berg zu Leibe rückten, gab es im November 1998 ein Referendum. Das Volk sagte Ja.

Freitickets verlost

Kein Wunder also, dass im ersten Zug, der am 1. Juni durch den neuen Gotthard-Tunnel fährt, nicht Honoratioren, sondern Hunderte "Normalbürger" sitzen werden. Die Freitickets wurden unter Zehntausenden Bewerbern verlost. Erst im zweiten Zug folgen Politiker und Staatsgäste – auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi werden erwartet. Ob der neue Österreichische Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) an der Eröffnung teilnehmen wird, war vorerst unklar. Fix zugesagt hat bereits sein Parteifreund und Verkehrsminister Jörg Leichtfried.

Bis zur Aufnahme des regulären Bahnbetriebs wird noch einige Zeit vergehen. Erst nach 3.000 weiteren Testfahrten soll die Strecke kurz vor Weihnachten endgültig freigegeben werden. Dann endlich kann der 1882 in Betrieb genommene Gotthardtunnel zwischen Göschenen und Airolo in die Ruhestandsreserve geschickt werden.

Was den neuen vom alten Tunnel unterscheidet, ist neben der viel größeren Länge, vor allem die enorme Tiefe, die gerade Strecke und seine Ebenerdigkeit. Der Basistunnel verläuft bei nur geringfügigen Steigungen sowie ohne enge Kurven auf einer Höhe von maximal 550 Metern über dem Meeresspiegel. Experten sprechen daher von einer "Flachbahn". Statt etwa 1.100 Meter Gebirgsmasse wie beim alten türmt sich über dem neuen Tunnel bis zum Gipfel des Gotthards eine Felsabdeckung von 2.300 Metern auf.

Dank dieser ingenieur- und bautechnischen Meisterleistung, an der in Spitzenzeiten 2.400 Arbeitskräfte beteiligt waren, besteht nun eine weitgehend ebene Gleisbettverbindung zwischen Nordsee und Mittelmeer.

Bis zu 250 Stundenkilometer möglich

Personenzüge können den Tunnel mit Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 250 Stundenkilometern durchrasen. Die Verbindung zwischen Zürich und Lugano soll sich um 45 Minuten auf rund zwei Stunden verkürzen. Zahlen, die pure Begeisterung wecken in einem Land, dessen Einwohner mit rund 2.300 Schienenkilometern pro Person und Jahr als Bahnreise-Weltmeister gelten.

Doch wichtiger als größere Bequemlichkeit für Reisende sind für Volkswirtschaft und Umwelt die Effekte im Güterverkehr. Pro Tag können künftig 260 Güterzüge das Gotthardmassiv durchqueren statt bisher maximal 180. Damit soll ein Teil der Gütertransporte zwischen Nord- und Südeuropa von der Straße auf die Schiene verlagert werden.

"Mit dem Bau der neuen Gotthardbahn verwirklicht die Schweiz eines der größten Umweltschutzprojekte Europas", verspricht der eigens als Tochter der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) geschaffene Bauträger AlpTransit Gotthard AG. "Es trägt wesentlich zum Schutz der Alpen bei." Allerdings nimmt der Gütertransport insgesamt immer mehr zu. Eine größere Reduzierung der Abgas-Belastung durch Straßentransporte erwarten Experten erst, wenn weitere neue Alpentunnel fertig werden.

Dazu gehört neben dem geplanten Mont-Cenis-Basistunnel zwischen Italien und Frankreich (ebenfalls 57 Kilometer, kaum vor 2026 fertig) der Brenner-Basistunnel zwischen Österreich und Italien. Dieses Kernstück der neuen Brennerbahn soll 64 Kilometer lang und damit zum nächsten "Tunnelweltmeister" werden. Doch bis frühestens 2026 Züge durch die Brenner-Riesenröhre rollen können, bleibt der Gotthard die Heimstatt des Eisenbahntunnel-Weltrekordlers. (APA, 24.5.2016)