Das Flüchtlingslager Dadaab in Kenia existiert seit 25 Jahren und beherbergt rund 350.000 Menschen. Mit einem "Marshallplan für Afrika" will die EU die Fluchtursachen vor Ort bekämpfen.

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"Europa retten ist Afrika retten": Unter diesem Schlagwort hat der österreichische Europaparlamentarier Heinz K. Becker (ÖVP/EVP) in Brüssel einen Marshallplan zur Bekämpfung der Migrationsursachen in Afrika vorgestellt. "Wir stehen vor einer großen Einwanderungswelle aus Afrika nach Europa. Nur wenn es Perspektiven vor Ort gibt, werden sich die Menschen nicht in die Hände von Schleppern begeben", sagte er bei einer Konferenz am Mittwoch. "Europa ist nicht fähig, eine neue Einwanderungswelle wie jene aus dem vergangenen Jahr in derselben Dimension zu schultern."

Dabei gehe es nicht nur um humanitäre Maßnahmen, sondern letztlich um die Schaffung "einer Win-win-Situation" für Europa und Afrika: "Europa soll dabei helfen, die Ursachen für die Fluchtbewegung in Afrika zu bekämpfen, und außerdem einen historischen Fortschritt schaffen für jene Regionen des Kontinents, denen es sehr schlecht geht."

Orientieren soll sich die EU-Initiative an dem als Marshallplan bekannten Hilfsprogramm der USA, das nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wesentlich zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas beigetragen hatte. Österreich war damals – pro Kopf gerechnet – der größte Empfänger der Hilfe.

Afrika, Zentrum der Fluchtbewegung

Hintergrund ist, dass Politiker und Experten wie der Migrationsökonom Paul Collier von der Universität Oxford seit geraumer Zeit mit einer verstärkten Fluchtbewegung aus Afrika rechnen. Zwar erleben viele afrikanische Länder ein stärkeres Wirtschaftswachstum, es bleibt aber zu gering, um die miserablen Lebensbedingungen zu verbessern. Zudem wird ein Großteil der Fortschritte vom Bevölkerungswachstum verschluckt. Zu Hunger und Armut kommen eine Vielzahl weiterer Probleme: Krieg und bewaffnete Konflikte, der Terror der islamistischen Boko-Haram-Kämpfer, Naturkatastrophen, Dürren.

Die Vereinten Nationen zählen gegenwärtig weltweit 60 Millionen Vertriebene, so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Die allermeisten, 80 Prozent, halten sich weiterhin außerhalb Europas auf. Nirgendwo aber sind so viele Menschen auf der Flucht wie in Afrika. Laut dem UN-Flüchtlingshochkommissariat und einem Bericht der NGO Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC) befanden sich 2015 mehr als ein Viertel aller weltweit Geflüchteten in Afrika, was über 15 Millionen Flüchtlingen und Binnenflüchtlingen entspricht. Knapp 75 Prozent der Flüchtlinge in Afrika haben innerhalb ihres eigenen Heimatlandes Zuflucht gesucht.

Migrationsdruck auf Europa

Mit der Schließung der Balkanroute und aufgrund des besseren Wetters machen sich allerdings neuerdings wieder vermehrt Menschen über das Mittelmeer nach Europa auf. Ihr Ausgangspunkt ist meist das in Gewalt und Chaos versinkende Libyen, von wo aus sie in Booten nach Europa übersetzen. Damit mehren sich auch die Stimmen, die davor warnen, dass sich der Migrationsdruck auf Europa erhöhen könnte, und die mehr direkte Hilfe vor Ort fordern.

Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) sprach bei seinem Besuch in Äthiopien im Februar von "Millionen Menschen", die sich auf den Weg nach Europa machen würden. Der deutsche Entwicklungsminister Gerd Müller rechnete im April mit bis zu 200.000 Menschen, die in Libyen auf ihre Überfahrt nach Italien warten. Müller sprach sich damals ebenso für einen gesamteuropäische Marshallplan in der sogenannten Flüchtlingskrise aus. Ähnliches hat der italienische Regierungschef Matteo Renzi mehrmals gefordert.

"Marshallplan des 21. Jahrhunderts"

Becker lud am Mittwoch im Europaparlament eine Reihe von Experten ein, um die Idee eines "Marshallplans des 21. Jahrhunderts" vorzustellen. Dieter Stiefel, Marshallplan-Experte am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, rechnete vor, wie die US-Hilfe von damals auf das Afrika von heute umzulegen wäre. "Die USA haben damals alle kleinen Hilfsprogramme eingestellt und ein großes daraus gemacht. Das müsste auch hier gemacht werden, es müsste tatsächlich ein sehr engagiertes, großzügiges Projekt sein." In anderen Worten: Die EU müsste ordentlich Geld in die Hand nehmen. Auf heute umgelegt wären es laut Stiefel zwischen 100 und 700 Milliarden Euro, die lockergemacht werden müssten.

"Wir müssen bis zum Jahr 2050 400 Millionen neue Arbeitsplätze schaffen, vor allem für die Jugend", sagte Carla Montesi, Direktorin für Entwicklungskoordination für West- und Zentralafrika in der EU-Kommission. "An einer massiven Aufstockung unserer Investments führt kein Weg vorbei."

"Migration kann nicht angehalten werden"

Emmy Takahashi, Vertreterin des UNHCR in Brüssel, erinnerte daran, dass Europa nicht das Zentrum der Flüchtlingsbewegung sei. In Afrika südlich der Sahara leben mehr geflüchtete Menschen als im Nahen Osten und Nordafrika, wo es fast 15 Millionen sind. Europa stellt mit sechs bis sieben Millionen Flüchtlingen – laut UNHCR vor allem Syrer in der Türkei sowie Menschen in und außerhalb der Ukraine – das Schlusslicht dar.

Eugenio Ambrosi, EU-Chef der Internationalen Organisation für Migration, geht davon aus, dass sich weit weniger Menschen von Libyen nach Europa auf den Weg machen als derzeit von Politikern angenommen: "Hört man einigen zu, dann klingt es, als würde sich die ganze Welt nach Europa aufmachen, das stimmt nicht. Migration kann nicht angehalten werden, sie muss verwaltet werden, und zwar richtig. Wenn das geschieht, ist das sowohl für die Migranten positiv als auch für das Herkunftsland." (Anna Giulia Fink aus Brüssel, 25.5.2016)