Die 15. Architektur-Biennale in Venedig steht unter dem Titel "Reporting from the front". Und einige wenige Länder haben sich auch wirklich der Herausforderung gestellt, nach vorne zu preschen und aus der ersten Reihe fußfrei zu berichten

Kniend am Boden, den Kopf in der Mitte des weißen Kreises, unentwegtes Kopfschütteln, 800 Sekunden lang. Was man hier unten im Schotter, mitten in den Giardini, zu sehen bekommt, ist ein Staccato an in der Tat schockierenden Bildern im Sekundentakt, 800 Stück davon, eines für jedes Jahr, seitdem in England die Magna Carta, die "Große Urkunde der Freiheiten", unterzeichnet wurde.

"Die einen haben sich Freiheit genommen, die anderen haben darunter gelitten", sagt Kurator Pierre Bélanger in Anspielung auf die Machenschaften der ehemaligen britischen Kronkolonie. "Diese ausbeuterische Vorgehensweise Kanadas hat sich bis heute nicht geändert. Die mittlerweile weltweite Suche nach Bodenschätzen, bei der Kanada die Finger im Spiel hat, ist eine Versklavung der Ureinwohner und ein brutaler Missbrauch von Land."

Noch nie war ein Beitrag auf der Architektur-Biennale in Venedig so nah am Realkrimi wie heuer. Reporting from the front lautet das diesjährige Generalthema der 15. Nabelschau internationalen Architekturdenkens, unter dem der aus Chile stammende Biennale-Direktor und Pritzkerpreisträger Alejandro Aravena zum Perspektivenwechsel aufruft. "Ich möchte auf diese Weise jene Menschen zu Wort kommen lassen, die direkt von der Front berichten und uns eine neue Sicht auf das Bauen geben können."

Einblicke in eine Welt, die nicht jedem gefallen: Vor dem kanadischen Pavillon dreht sich alles um Bodenschätze und den Missbrauch von Land.
Foto: AnnA BlaU

Und Kanada, oh ja, Kanada ist ein heißes Eisen aus allererster Reihe fußfrei. Der Beitrag von Pierre Bélanger, der in Toronto und Ottawa das Landschaftsplanungsbüro Opsys betreibt und an der Harvard Graduate School of Design in Cambridge unterrichtet, ist sogar so heiß, dass sich die Regierung daran nicht die Finger verbrennen wollte – und den Kurator kurzerhand aus dem Pavillon verbannte.

"Als bekannt wurde, dass wir investigativ vorgehen möchten und die Bodenausbeutung Kanadas thematisieren wollen", erklärt Bélanger im Gespräch mit dem Standard, "wurde uns untersagt, den kanadischen Pavillon zu betreten." Aus diesem Grund sei man nun draußen in der freien Natur. "Offiziell heißt es, dass man den Pavillon nun dringend renoviere", sagt Bélanger, der das Projekt zur Gänze mit privaten Spenden finanzieren musste.

29 Säcke mit je einer Tonne Golderz stehen nun wie eine mahnende Mauer vor dem leeren Pavillon. Das Material stammt von einer kontaminierten Goldmine in Sardinien, die von einem kanadischen Förderunternehmen betrieben und nach der globalen Finanzkrise aufgelassen wurde. Es ist ein bis auf die Spitze getriebener Zynismus, dass man das 800 Sekunden lange Mikrofilmchen mit Bildern von zerstörten Landschaften und glücklichen Eröffnungszeremonien samt Blitzlichtgewitter und durchgeschnittenem Band just durch eine massiv goldene Linse erspäht.

Krisengebiet Biennale

Nach so viel Schock braucht man Erholung. Und die findet man auf der 15. Architektur-Biennale zur Genüge. Ein Teil der Länderbeiträge und der von Direktor Aravena direkt beauftragten Werke, die im Arsenale und in den Giardini zu sehen sind, rasseln belanglos und vorhersehbar durch den Filter. Auffällig sind die drei großen Themenbereiche, denen sich die meisten Teilnehmer verschrieben haben. Und irgendwie handeln alle drei vom Umgang mit der Krise.

Erstens erlebt man eine Renaissance des Emergency Design samt Kisten, Zelten und Containern. Zweitens lernt man die Architektenschaft als eine Gruppe mit einem Sensorium für Soziales und Ethnisches kennen. Und drittens – und das ist der mit Abstand interessante Fokus von allen – bekommt man als Besucher Einblick in eine Welt der enden wollenden Ressourcen.

Israel denkt über die Zukunft des Bauens nach und stellt die These auf, dass auf die digitale Revolution, in der wir uns gerade befinden, eine intensive Auseinandersetzung mit der Biologie folgen müsse. Bahrain zelebriert sich als kleine Inselnation mit der neuntgrößten Aluminiumhütte der Welt. Und stellt damit nicht nur Licht, sondern auch Schattenseiten dar. Serbien stellt das Berufssystem an den Pranger und beklagt die Jobsituation junger Architekten, die oft nur Aussicht auf Gratisarbeit haben. Was für eine Ressourcenverschwendung! Und Skandinavien will erst gar nicht anfangen, einzelne Probleme aufzuzählen, und schickt sich gleich selbst in Psychoanalyse, direkt auf Freuds Couch.

Soziale Ghettos

Im australischen Pavillon taucht man in die Geschichte des Badens und Plätscherns ein. "Australien hat die weltweit höchste Swimmingpooldichte pro Kopf", sagt Kuratorin Isabelle Toland. "Daher wollten wir den Pool als Ort der Sozialisation und der nationalen Identität, aber auch als Auslöser für ökologische Probleme darstellen." Im Hintergrund kommen Sänger, Autoren, Modedesigner und Landschaftsarchitekten zu Wort.

Eine besonders wichtige Ressource ist nicht zuletzt das soziale Ghetto. Dieser Meinung ist man im deutschen Pavillon. Unter dem Titel Making Heimat. Germany, Arrival Country wurde untersucht, welche Chancen jene Grätzel und Quartiere haben, die oft einen hohen Migrantenanteil und selten einen guten Ruf haben. Dargestellt werden acht Orte in Deutschland, sogenannte Arrival Places, in denen sich eine funktionierende Mikroökonomie, eine Art Paralleluniversum etabliert hat.

"Statistisch gesehen sind die Arrival Places miese Orte mit niedrigem Einkommen, aber auch einer sehr hohen Fluktuation, weil die Menschen sehr bald wieder weiterziehen, sobald es ihnen besser geht", sagt Kurator Oliver Elser vom Deutschen Architekturmuseum (DAM). "Tatsächlich sind dies Orte, von denen wir viel lernen können. Ich möchte mit diesem Beitrag ganz laut sagen: Fürchtet euch nicht! Ein hoher Migrantenanteil ist ein Segen und kein Fluch. Und nicht jedes Viertel mit einem hohen Armuts- und Arbeitslosenanteil ist sofort ein Problemgebiet."

Der deutsche Pavillon ist eine schöne thematische Ergänzung zum österreichischen Beitrag, der in Venedig nur einen Bruchteil seines Umfangs verrät. Unter dem Titel Orte für Menschen ließ Kuratorin Elke Delugan-Meissl in Zusammenarbeit mit Liquid Frontiers drei leerstehende Bürobauten aus den Achtzigerjahren wohnbar machen – mit Möbeln, Installationen und behelfsmäßigen Notkonstrukten von Eoos, Caramel Architekten und The Next Enterprise.

Und dann Albanien. Das geht unter die Haut. Die beiden Kuratoren Simon Battisti und Leah Whitman-Salkin widmen sich der aussterbenden Ressource der Iso-Polyphonie, auch Kënge Kurbeti genannt. Der außergewöhnliche mehrstimmige Gesangsstil handelt meist von Heimweh, Abschied und weggezogenen Kindern und ist immaterielles Unesco-Weltkulturerbe.

"Doch nachdem immer mehr Menschen in die Stadt auswandern und ganze Dörfer aussterben, droht auch die Kultur des Kënge Kurbeti zu verschwinden", sagt Whitman-Salkin im Gespräch mit dem STANDARD. Im Pavillon ist eine wunderschöne Sound-Installation zu hören, in der man gedanklich nach Albanien schweift. Die Texte handeln ganz traditionell von Migration. Allerdings sind es diesmal nicht die Töchter, die wegheiraten, und die Söhne, die ins Militär ziehen, sondern Texte von namhaften Architekten und Stadtplanern, die ins Albanische übersetzt wurden und die vom Wachstum der Stadt und vom Verschwinden der ländlichen Gebiete handeln. Gänsehaut. Das macht den Goldrausch wieder wett. (Wojciech Czaja, 27.5.2016)

Die Architektur-Biennale in Venedig ist bis 27. November zu sehen.

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Der deutsche Pavillon.

Der Österreich-Pavillon der La Biennale di Venezia.

Foto: APA/PAUL KRANZLER

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Foto: APA/AFP/VINCENZO PINTO

Der Beitrag von Paraguay.

Foto: APA/AFP/VINCENZO PINTO

Beitrag des belgischen Architektenbüros 51N4E in Tirana.

Foto: APA/AFP/VINCENZO PINTO