Genial oder unheimlich? Eine Software hilft Unternehmen, Bewerber über ihre Sprache zu durchleuchten: Zum Beispiel wie fleißig jemand ist, ob die Person gestresst ist oder zum Lügen neigt.

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Neben datenschutzrechtlichen Bedenken merken Kritiker auch an, dass die Software die Entwicklungsfähigkeit von Menschen verkennen würde.

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Ein digitales Tool, das Menschen lesbar macht. Das ist "Precire", eine Software, die angeblich besser weiß, wie jemand tickt, als Chefs und Recruiter. Entwickelt vom kleinen Aachener Start-up Psyware, soll das Programm innerhalb weniger Minuten ein umfassendes Bild der Persönlichkeit des Bewerbers liefern. Wie das funktioniert? Eine Journalistin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung testete die Methode. Man bat sie zunächst, mit einem Computer zu telefonieren und Fragen zu beantworten, darunter: Welche Sorgen hatten Sie in den vergangenen Wochen? Oder: Beschreiben Sie einen typischen Sonntag. Die Unterhaltung dauerte knapp 15 Minuten, das Gesprochene wurde aufgezeichnet und durch das Analyseprogramm geschickt. Das Resultat der Messung: sechs DIN-A4-Seiten mit Balkendiagrammen und Tabellen. Sie weisen der Redakteurin etwa eine überdurchschnittlich hohe Offenheit, Kontaktfreudigkeit, Neugierde und Selbstorganisation nach. Hingegen sei sie wenig statusorientiert und einigermaßen verausgabungsbereit.

Ein Muster in der Sprache finden

Dirk Gratzel, Geschäftsführer von Psyware, erklärt, wie die Ergebnisse zustande kommen: "Precire analysiert Merkmale, die die Sprache auszeichnen." Die Länge der Sätze werde ebenso bemessen wie Satzbau und Wortwahl: Verneinungen, Konjunktive, Bindewörter. Zusätzlich analysiert die Software, wie schnell und wie laut jemand spricht. Der Inhalt des Gesprächs ist nicht ausschlaggebend. Auffälligkeiten in der Sprache sollen schließlich auf Charaktereigenschaften hinweisen. Dabei seien aber keine einfachen Rückschlüsse möglich, betont Gratzel. "Wenn jemand oft 'soll' oder 'muss' sagt, zwei Wörter, die Zwang repräsentieren, bedeutet das nicht, dass jemand ein zwanghafter Mensch ist." Entscheidend sei nicht ein einzelnes Phänomen, sondern ein Muster.

Stress in der Stimme

Evaluiert wurden die Parameter in psychologischen Tests mit 5000 repräsentativ ausgewählten Personen. So konnte festgestellt werden, welche sprachlichen Merkmale beispielsweise auf Ängstlichkeit oder Kontaktfreude hinweisen. Jede neue Analyse erfolgt im Vergleich zu dieser Gruppe.

Auch Stress soll die Software messen können. Vermarktet wird Precire nämlich nicht nur als Unterstützung bei der Bewerberauswahl, sondern auch als Gesundheitsmanagement-Tool. Auf Basis einer Sprachanalyse erstellt es Befunde, die Mitarbeiter über ein Onlineportal einsehen können. Dargestellt werden sie in Gestalt eines Baumes auf einem Farbbalken: links grün und blühend, rechts kahl und rot. Diejenigen, bei denen das Tool psychische Probleme ermittelt, finden sich im rechten Bereich wieder. Ihnen wird empfohlen, Onlinecoaching oder telefonische Beratung in Anspruch zu nehmen.

Wo landen die Daten?

Am Einsatz für das Gesundheitsmanagement hängt sich auch eine Kritik an Precire auf. Was, wenn Arbeitgeber die Daten missbrauchen? Psyware-Chef Gratzel bemüht sich, diese Bedenken zu zerstreuen: "Wir kennen Ihren Namen nicht und wollen ihn auch gar nicht wissen." Alle Sprachproben würden anonymisiert. "Zudem würde auch keinem Arbeitgeber die Möglichkeit gegeben, auf unsere Systeme zuzugreifen."

Auch Zweifel an der Gültigkeit der Methode werden erhoben. Ein Argument ist, dass etwa sprachliche Merkmale – ein starker Dialekt oder Stottern – nicht erfasst werden können. Gratzel gibt zu: "Das kommt vor. Dann sagt das System: das kann ich nicht analysieren."

Die Bedenken der Kritiker

Klaus Kubinger vom Arbeitsbereich für Diagnostik am Institut für Psychologie der Uni Wien über das Thema Validität: "Das Produkt ist nicht durch die wissenschaftliche Psychologie mit allen ihren Konsumentenschutzmechanismen gegangen. Somit ist es aus meiner Sicht – noch – unqualifiziert". Dass ein Mensch in allen Ausdrucksformen seine Persönlichkeit zeige, sei aber grundsätzlich nicht abwegig. "Vor mehr als 100 Jahren hat das Rorschach mit seinen berühmten Tintenklecksen versucht." Fraglich sei bloß, "ob sie in einer derart generalisierten, verbindlichen Art diagnostiziert werden kann".

Zudem würde ein solcher Test die Entwicklungsfähigkeit von Menschen verkennen, gibt Doris Schäfer, die bei Heitger Consulting unter anderem für die Bereiche Personalentwicklung und Potenzialanalyse zuständig ist, zu bedenken. "Gemessen wird das, was jemand aktuell kann, aber nicht das, wozu man möglicherweise fähig ist." Zudem könnte vielleicht zu sehr auf denselben Menschentyp geschaut, könnten zu homogene Teams gebildet werden, sagt Schäfer. Für sie stellt sich außerdem die generelle Frage, inwieweit Arbeitgeber befugt sind, in die "Tiefe der Psyche" von Menschen vorzudringen.

Wer die Software bereits einsetzt

Es gibt dennoch eine Reihe von deutschen Firmen, die Precire bereits einsetzen: Banken, Versicherer, die Polizei oder eine große Onlinepartnerbörse. Die Hotelgruppe Accor, IBM und die Krankenkasse DAK sind laut FAZ ebenfalls Kunden. Zudem kooperiert Psyware mit den Beratungshäusern IFP und Kienbaum. "Der Markt wandelt sich", erklärt Kienbaum-Geschäftsführer Hans Ochmann dazu im Manager-Magazin. Das Verfahren sei effizienter, billiger und schneller als Eignungstests und Management-Audits. Mit zwei größeren Unternehmen in Österreich sei er im Gespräch, ihre Namen will Psyware-CEO Gratzel nicht nennen, es sei "aber nur noch eine Frage der Zeit, bis wir auch in Österreich unsere ersten Projekte haben."

Künstliche Intelligenz in der Personalauswahl

Dass digitale Technologien wie Precire die Auswahl von Mitarbeitern revolutionieren werden, glaubt Schäfer trotzdem nicht. "Viele Organisationen haben bereits jetzt Probleme, qualifizierte Mitarbeiter zu finden. Ich bin überzeugt davon, dass sie mit einem solchen Test viele Bewerber abschrecken würden." Schäfer hält es aber dennoch für lohnenswert, sich mit künstlicher Intelligenz für die Personalauswahl und -entwicklung auseinanderzusetzen. "Sie kann als zusätzliches Tool angewendet werden, aber sollte keinesfalls das Gespräch ersetzen." Gratzels Vision ist es, dass digitale Technologien künftig nicht nur Sprache, sondern auch menschliche Emotionen verstehen lernen. (Lisa Breit, 7.6.2016)