Um 18.30 Uhr klingelt das Smartphone. Auf dem Display scheint der Name der Chefin auf. Bernhard kann sich nicht entscheiden. Soll er abheben? Es ist Samstagabend. Freies Wochenende. Doch Bernhard lässt die Frage nicht los, was will die Chefin? Ist es etwas Dringendes? Hat er etwas vergessen? Oder geht's mal wieder darum, dass das eine Projekt noch nicht ganz fertig ist? Das Handy klingelt immer noch. Irgendwann hört es auf. Auf die Box gesprochen hat die Chefin nicht. Ein paar Minuten überlegt Bernhard, dann ruft er doch zurück. Es könnte ja wichtig sein.

Die Grenze zwischen Arbeitszeit und Freizeit verwischt immer mehr. Mails nach Dienstschluss zu beantworten oder am Sonntag von zu Hause aus den Termin für Montag vorbereiten – für viele gehört das zum Job dazu. Doch heißt das nun, wir arbeiten mehr als früher? Oder leben wir hier einfach die vielgelobte Flexibilität, die sich die Wirtschaft so sehr wünscht?

Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Freizeit, acht Stunden Ruhe. Das war die goldene Regel, die die Gewerkschaften seit Ende des 19. Jahrhunderts eingefordert, um die sie gekämpft und die sie schließlich auch in Gesetze gegossen bekommen haben. Heute weicht dieses Modell immer mehr auf und gilt in zahlreichen Branchen nur mehr bedingt. Durch den Vormarsch der Technologien mit dem Smartphone als Speerspitze und der damit verbundenen leichteren Erreichbarkeit wird die Trennlinie zwischen Arbeit und Freizeit unscharf. Dies gilt in erster Linie für sogenannte "Wissensarbeiter", bei denen der Job immer mehr zum Statussymbol, zu einer Lebenseinstellung, sogar zum Lebensmittelpunkt wird.

Arbeiten immer und überall. Auch im Bett.
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Beim Rückruf hebt Bernhards Chefin sofort ab. Sie entschuldigt sich für die Störung am Wochenende. Aber der Kunde hat angerufen und will noch einmal den Entwurf sehen, doch den hat nur Bernhard auf seinem Laptop abgespeichert. Ob er ihr den wohl mailen kann, fragt die Chefin. "Klar", sagt Bernhard, klappt den Laptop auf und sucht nach dem Dokument.

In den jungen hippen Unternehmen des Silicon Valley, in denen, wie vielerorts nachzulesen ist, bei weitem nicht alles so super ist, wie es von außen aussieht, findet das Leben schon oft am Arbeitsplatz statt: Yoga, Bewegungszone, Kaffeehaus, Mittagessen, Abendgestaltung – alles in einem. Dazwischen wird gearbeitet. Business-Coach Michl Schwind glaubt, es werde in diese Richtung gehen, auch in Österreich, wenn auch langsam. "Der Trend wird eher in Richtung Arbeitseffizienz gehen. Ob das wirklich weniger Arbeitsstunden heißt, weiß ich nicht. Aber sicher mehr Flexibilität."

Arbeiten ohne Keuchen

Schwind begleitet Firmenchefs bei Fragen rund um die Unternehmenskultur. Fragen rund um die Arbeitszeit gehören seit jeher zu den wesentlichen Säulen einer Unternehmenskultur. Hier habe sich in den vergangenen Jahren sehr viel geändert. "Wie kann ich die Zeit, die ich hier bin, so nutzen, dass ich nicht nur mit heraushängender Zunge rausgehe?", sei zu einer zentralen Frage geworden. Gerade in einer Leistungsgesellschaft sei es notwendig zu schauen, wie Leistung gut möglich ist. Und das nicht nur in Bezug auf die Anzahl der Stunden. "Früher hat man damit beeindruckt, wie lange man in der Arbeit sitzt. Leute ließen das Licht im Büro brennen, damit es so ausschaut, als wäre man nach 21 Uhr noch da." Hier verändere sich die Diskussion, es gehe durchaus auch weg vom Gasgeben.

Dass der Job bei vielen eine so zentrale Rolle im Leben einnimmt – und das nicht nur, weil er das Konto monatlich auffüllt –, ist auch ein Frage des Zeitgeistes. In der Nachkriegszeit, als die höchsten Werte Bescheidenheit und Anstrengung waren, kam es nicht immer sonderlich gut an, wenn man gesagt hat: "Ich liebe meinen Job und gehe unglaublich gerne arbeiten." Arbeit musste anstrengend sein, um als Arbeit zu gelten. Selbstdarstellung ist jetzt trendy, da kann man leichter auch sagen: "Mir macht mein Job Spaß."

Ein, zwei, drei, viele E-Mails.
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Nachdem Bernhard das Mail abgeschickt hat, bleibt sein Blick noch auf den eingegangenen Nachrichten hängen. Der Kollege hat gerade geschrieben und um eine Antwort gebeten. Stimmt, darauf hat Bernhard im ganzen Trubel am Freitag vergessen. Also schreibt er seinem Kollegen schnell zurück und checkt gleich auch noch die restlichen Mails, die in den vergangenen Stunden angekommen sind. Kurz hat sich Bernhard gefragt, ob er das alles jetzt als Arbeitszeit eintragen soll. Er tut es nicht.

Aus der Wirtschaft kommt sie in regelmäßigen Abständen, die Forderung nach einer Aufweichung von gesetzlichen Regelungen und einer weiteren Flexibilisierung der Arbeitszeit. Unlängst stand der Acht-Stunden-Tag wieder zur Debatte: Die höchstzulässige Arbeitszeit soll ausgedehnt werden auf zwölf Stunden, wünscht sich die Wirtschaft. Arbeitnehmervertreter sind erwartbar wenig begeistert.

"Der Acht-Stunden-Tag verschwindet in vielen Bereichen immer mehr. Als Zeiteinheit gilt die Woche mit 40 Stunden oder es sind sogar noch längere Durchrechnungszeiträume", sagt Annika Schönauer. Sie arbeitet am Institut für Arbeitsforschung (Forba) in Wien. Es gebe eine Tendenz dazu, dass Arbeitszeit über das Jahr oder den Monat viel variabler verteilt wird, als das früher der Fall war. Dafür werden verschiedene Arbeitszeitmodelle angewandt wie Gleitzeit oder längere Durchrechnungszeiträume. So können auf drei Wochen mit langen Arbeitstagen vielleicht ein paar lockerere Wochen mit weniger Stunden folgen. Dass das in der Praxis nicht immer funktioniert, ist auch klar. Mit All-in-Verträgen oder pauschalierten Überstunden schlagen sich Arbeitnehmervertreter schon seit Jahren herum. Denn nicht ungern werden diese Vertragsformen als Arbeitszeitmodelle missbraucht, sagt Schönauer.

Generell wird ein bisschen weniger gearbeitet. Mit dem Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise ab dem Jahr 2008 wurde sehr viel an Arbeitszeit zurückgefahren. Neben der Kurzarbeit waren der Abbau von Überstunden und das Runterdrehen von Überstundenpauschalen Mittel der Wahl. Seither habe sich das Niveau der Überstunden auf einem niedrigeren Niveau eingependelt, erklärt Schönauer. Ob tatsächlich weniger Überstunden geleistet werden oder diese einfach nur ein neues Mascherl als Gleitzeitstunden bekommen haben oder in einen All-in-Vertrag gepackt wurden, das ist eine andere Frage, die nicht letztgültig zu beantworten ist.

Flexibilität wird erwartet und auch praktiziert – das ist nicht nur für Vereinbarkeitsfragen eine große Herausforderung, sagt die Arbeitsforscherin Schönauer. Oft scheitert die geforderte Flexibilität schlicht daran, dass zu wenig weit in die Zukunft geplant wird oder werden kann. Auch dafür gibt es eigentlich Regelungen: Überstundenzuschläge. Doch die kommen Unternehmen teuer.

Flexibilität kann auch ihre guten Seiten haben. Der eine ist ein Morgenmensch, die andere lieber bis spät in der Nacht auf. Wenn sich der Arbeitsalltag in diese Richtung einteilen lässt oder Betreuungspflichten für Kinder mit dem Job unter einen Hut zu bringen sind, sind flexible Einteilungen wichtig und ein Gewinn für Arbeitnehmer und Arbeitgeber.

Handy abschalten, Laptop abdrehen: Das schaffen einige nicht einmal im Urlaub.
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Oft hat der Arbeitstag so aber kein echtes Ende, sagt die Arbeitspsychologin Claudia Poje. Zu Hause noch einmal schnell die E-Mails checken oder am Abend noch kurz den Termin für morgen vorbereiten, für viele fühlt sich das nicht wie Arbeit an. Man könnte es aber einfach unbezahlte Arbeitszeit nennen. "Das rechne ich Klienten oft vor, wenn sie sagen, das sind ja nur zehn Minuten, wo ich Mails lese. Rechnen Sie sich das einmal auf das ganze Jahr durch, das sind dann eineinhalb Wochen", sagt Poje.

Das ständige On-sein kann auch der Nährboden für gesundheitliche Probleme wie ein Burnout sein. Studien deuten darauf hin, dass der Stresslevel massiv ansteigt, sobald am Smartphone auch nur aufscheint, dass eine Mail angekommen ist. Und das erhöht auch den Druck, diese zu lesen und dann höchstwahrscheinlich auch zu beantworten. So mancher Leser und auch die Autorin fühlen sich jetzt ertappt – einmal kurz noch Mails checken vor dem Schlafengehen ist wohl weiter verbreitet, als man meint. Arbeitspsychologin Poje meint dazu schlicht: "Letztlich nimmt man die Firma mit ins Bett."

Klare Trennung

Die Psychologin rät unserem Bernhard und auch allen anderen: klare Trennung zwischen Beruf und Freizeit, zum Beispiel mit zwei Handys. Gibt es keine Rufbereitschaft und ist man raus aus dem Job, wird das Job-Handy abgedreht und zu Hause nicht in den Arbeitsmailaccount geschaut. Gleiches gilt für Urlaub und Wochenende. Das scheint für viele nicht machbar. Ob es vom Chef oder der Chefin so verlangt wird oder ob es aus einem eigenen Antrieb herauskommt, ist wiederum nicht immer ganz klar. Denn eine einfache Erklärung dafür, warum wir uns mit Mails ins Bett legen oder im Urlaub mit dem Kunden telefonieren, hat Psychologin Poje auch: "Man fühlt sich wichtig und unentbehrlich. Das treibt einen an."

Am Ende muss jeder individuell entscheiden, ob das Checken der Mail außerhalb des Büros mehr Stress bedeutet oder ob sich damit vielleicht auch Stress vermeiden lässt. Eine einfache Lösung gibt es hier wohl nicht.

Mails, Telefonanrufe – wenn alle etwas brauchen.
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Ein bisschen ärgert sich Bernhard schon. Warum muss ihn die Chefin am Samstag anrufen? Das hätte schon auch bis Montag warten können. Früher, als es keine Handys gab, wäre sie darauf angewiesen gewesen, dass er zu Hause sitzt und das Festnetztelefon abhebt. Nun gut, zu Hause war er jetzt auch. Die Chefin schickt ein kurzes Dankesmail für das gesuchte Dokument, das versöhnt Bernhard wieder mit seiner Samstagsarbeit.

Für die Arbeitsforscherin Schönauer führt jedenfalls kein Weg daran vorbei, die Arbeitszeit generell zu verkürzen: "Das muss gar nicht die vielzitierte 30-Stunden-Woche sein." Es gebe verschiedenste Formen von Auszeiten in größerem Ausmaß. Stichwort Umverteilung von Arbeit, um so zum Beispiel einen längeren Urlaub in Anspruch nehmen oder früher in Pension gehen zu können. Tendenzen in diese Richtung gibt es bereits. Bei den Metallern zum Beispiel können sich Arbeitnehmer schon seit mehreren Jahren zwischen einer Gehaltserhöhung oder mehr Freizeit entscheiden. Diese "Freizeitoption" ist kollektivvertraglich festgehalten, muss aber auch in einer Betriebsvereinbarung verankert sein. Laut Schönauer stoßen solche Vorstöße auch vermehrt auf Resonanz, sie glaubt auch, dass solche Modelle zunehmen werden.

Schließlich lasse das maue Wirtschaftswachstum exzessive Arbeitszeiten beim Einzelnen nicht mehr zu, da müsse man umverteilen. Doch wie sieht es in solchen Fällen mit dem Geld aus? Weniger Arbeit für das gleiche Geld? Ein voller Lohnausgleich sei für die unteren Einkommen unumgänglich, meint Schönauer. "Beim obersten Einkommensdezil machen Überstunden sieben Prozent vom Bruttoeinkommen aus. Wenn die nur gering besteuert sind, dann verstärkt das die Ungleichheit." Für niedrigere Einkommen hingegen seien Überstunden relevant, weil dann netto mehr überbleibt, eine Umverteilung sei hier wichtig.

Mittlerweile hat Bernhard eine Stunde gearbeitet, seine Freundin ruft ihm schon aus dem Wohnzimmer zu, er solle endlich fertig werden. Bernhard klappt den Laptop zu und schaltet das Handy aus. Der Samstagabend wartet. Mails lesen oder arbeiten kann er am Sonntag auch noch.

(Daniela Rom, 12.6.2016)