"Ungewisses Manifest 1" vereint verschiedene Erzählformen, die Frédéric Pajak (61) um eine assoziative Tuschzeichnungen-Bildebene sowie ein Porträt von Walter Benjamin erweitert – und öffnet.

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Wien – "Ich ziehe nach Paris, in eine kleine Zweizimmerwohnung im obersten Stock der Rue Pigalle 42. Immer noch allein, ohne Frau, ohne Freund. Ein Jahr der Einsamkeit, des Elends. Ich habe kein Geld, keine Arbeit", schreibt der Zeichner und Autor Frédéric Pajak im Vorwort seines Buches Ungewisses Manifest 1.

Er versuchte zu jener Zeit wieder einmal, seine Zeichnungen zu veröffentlichen. "Nicht kommerziell genug" lautete das immer gleiche Ablehnungs-Argument, das der 1955 in Frankreich geborene Pajak in Paris, später in der Schweiz oder in den USA, wo er einige Zeit lebte, von Verlagen und Redaktionen hörte. Zuletzt ging er "betteln, mehr als einmal".

Jahre zuvor hatte er die Kunstschule nach einem halben Jahr aufgegeben, seine Zeichnungen verbrannt und in Druckereien, auf dem Bau, als Liegewagenschaffner und Öltank-Putzer gearbeitet, oder in einer Industriemetzgerei tote Tierkörper verladen. Es war die Zeit, als er, die "Aushilfsschwuchtel", "mit der Tyrannei der kleinen Werkmeister, der Vorarbeiter, dem Dünkel der Chefs, der Feigheit der Angestellten" Bekanntschaft machte – und mit der mangelnden Solidarität.

Festhalten am Traum

Es ist allerdings nicht die Pose des Unverstandenen, die Pajak im Vorwort seines Ungewissen Manifestes einnimmt, dafür schreibt er zu klar, nüchtern, ohne Pathos. Vielmehr erzählt er vom Festhalten an einem nie aufgegebenen Traum. Es ist der Traum von einem Buch, "das Wörter und Bilder vereint. Abenteuerfolgen, zusammengetragene Erinnerungen, Sprüche, Gespenster, vergessene Helden, das tobende Meer."

Als 40-Jähriger veröffentlichte er das erste seiner Bücher. Ohne Resonanz. Weitere folgten, sie verkauften sich, so Pajak, wie durch ein Wunder und brachten dem Autor, Zeichner und Herausgeber einer Graphic-Novel-Reihe Preise ein. Vor allem sorgte der am Genfersee und in Paris lebende Künstler mit den mittlerweile vier Bänden seines Ungewissen Manifestes für Furore, dessen erster Band nun sorgfältig ediert und von Ruth Gantert vorzüglich übersetzt in der kleinen Edition Clandestin auf Deutsch vorliegt.

Ein unbestimmtes Gefühl

Ungewisses Manifest 1 ist ein außergewöhnliches Buch, nicht nur ungewöhnlich schön und aufwendig gemacht, sondern auch formal gewagt, indem es verschiedene Erzählformen wie Essay, Journal, Novelle, Reisetagebuch und Kampfschrift mischt – und dem Text mit Tuschzeichnungen eine eigenständige assoziative Bildebene hinzufügt. Die Zeichnungen illustrieren laut Pajak nicht den Text, sondern "höchstens ein unbestimmtes Gefühl".

Aus Bildern, Lektüren, Lebensfragmenten, Gedankensplittern, Selbstbeobachtungen und Erinnerungen lässt Pajak einen Denk-, Erinnerungs- und Lebensraum entstehen, der weit über die einzelnen Elemente hinausreicht.

So geht es in den acht Kapiteln auch um den polnischen Vater, die französische Mutter und die Großmutter väterlicherseits, bei der er in Straßburg aufwuchs. Durch ihre Erzählungen lernte Pajak den vergangenen Krieg kennen "Wort für Wort", und er ahnte schon früh, dass der "heutige Frieden" nur relativ ist, "da er sich aus weit entfernten Lokalkriegen nährt, die in Form von niederschmetternden Bildern an uns abprallen". Die Großmutter war es auch, die ihm die Augen für die Liebe öffnete.

Vom Persönlichen blendet Pajak immer wieder ins Allgemeine, Politische und Existenzielle, vor allem anhand von Reiserlebnissen, Begegnungen und Lektüreeindrücken. So schildert er etwa im neben dem Vorwort einzigen bildlosen Kapitel eine groteske Begegnung mit zwei Faschisten in Lausanne – kurz nach dem mutmaßlich von Gesinnungsgenossen verübten Anschlag auf den Bahnhof Bologna im Jahr 1980. Er setzt sich aber auch mit einem Text Samuel Becketts über den Maler Bram van Velde auseinander, in dem der Schriftsteller einen Bruder zu erkennen glaubt – und einen "absolut Verzweifelten".

Im Zentrum des Buches steht indes jener "versehrte Träumer in der Landschaft", der im Untertitel des Manifests genannt wird: Walter Benjamin (1892-1940). Es sind nicht die späten Jahre Benjamins, um die es hier geht, in denen der jüdische Übersetzer, Autor und Kulturkritiker durch halb Europa fliehen musste, bis er nach zahllosen "standhaften Irrgängen" in Portbou in den Freitod ging. Mehr interessieren Pajak die Jahre zwischen 1924, als Benjamin in Capri zufällig einen Besuch Mussolinis erlebte, und der Machtergreifung der deutschen Nationalsozialisten 1933, die Benjamin endgültig ins französische Exil zwang.

Ideologie und Individuum

In Pajaks sehr persönlichem Porträt Benjamins, der in einem Zeitalter der großen Ideologien und des Kollektivismus auch seine Illusionen über den Kommunismus verlor und zunehmend verzweifelt für das Individuum eintrat, spielt der "Lumpenproletarier" eine wichtige Rolle. Nicht dem "heldenhaften Proletariat", sondern in dieser klassenlosen Figur ohne Zukunft, ohne Macht sah Benjamin einen Verwandten.

Auch er, schreibt Benjamin, steche im Morgengrauen mit einem Stock Redelumpen und Sprachfetzen auf, "um sie murrend (...) in seinen Karren zu werfen". Dies nicht ohne zuweilen ein mit Worten wie "Menschentum", "Innerlichkeit", "Vertiefung" bedrucktes Tuch "spöttisch im Morgenwind flattern zu lassen".

Auch Pajak sucht Fragmente zusammen, eigene, angelesene, historische. Gerade dadurch handelt Ungewisses Manifest 1 vom großen, zerbrochenen Ganzen. Trotz der Einsamkeit und Gottverlassenheit vor allem in den Zeichnungen spricht dieses Buch auch von der Hoffnung. Es ist jene größere Hoffnung, dass Wort und Gefühl, Imagination und Realität, Liebe und aufgelöstes Leid in eins fallen, von der auch Ilse Aichinger spricht.

Frédéric Pajak schreibt: "Ich glaube an das Stammeln, an das zerfetzte Wort mit seinen Dornenranken und seinem Gestrüpp. Ich glaube an eine totale Wahrheit, die unaussprechlich ist." (Stefan Gmünder, 7.6.2016)