Für Touristen gibt sich Rio als Stadt für Homosexuelle. Bei der 21. Gay-Pride-Parade im November werden eine Million Menschen erwartet. Das wirkliche Leben sieht für Schwule und Lesben aber weiter trist aus.

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Rio de Janeiro – Am Strand von Ipanema weht weithin sichtbar die Regenbogenflagge. Der Strandabschnitt gilt als beliebtester Treffpunkt der LGBT-Szene (Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle). Nicht nur an den Wochenenden ist es hier voll. Portugiesische und englische Wortfetzen fliegen durcheinander. Rio de Janeiro umwirbt eifrig homosexuelle Touristen.

"Cidade maravilhosa", die wunderbare Stadt, wie sich selbst nennt, soll nicht nur für Schönheit und Strandfeeling stehen, sondern auch für Vielfalt. Seit Jahren schon gilt die Metropole am Zuckerhut hinter New York als beliebtestes Reiseziel für Lesben und Schwule. Die Stadtväter freut es, gibt doch die LGBT-Community einer Untersuchung zufolge doppelt so viel Geld aus wie "normale Touristen".

Hundert Meter weiter in Ipanema liegt die Feiermeile Farme de Amoedo, die angeblich "schwulste Straße der Welt", wie es in Reiseführern heißt. Bars und Cafés reihen sich aneinander, am Abend ist auf dem Bürgersteig kaum ein Durchkommen.

Auf einem Klapptisch vor einer Bar stehen Kerzen und Blumen in Erinnerung an den Terroranschlag auf den Schwulenclub Pulse in Orlando. "Solch ein Verbrechen ist auch in Brasilien möglich", sagt der LGBT-Aktivist Julio Moreira nachdenklich. Der Zugang zu Waffen auf dem Schwarzmarkt sei leicht.

Begehrtes "pink money"

"Rio hat dieses Image einer weltoffenen, toleranten Stadt, in der es viele Clubs gibt und jeder willkommen ist", sagt Moreira. Das sogenannte "pink money" sei eine wichtige Einnahmequelle. Deshalb gebe es die vielen Kampagnen, die Rio zu einer "gaytastic" Stadt machen. "Doch das ist sehr oberflächlich", meint er.

Die Mehrheit der Schwulen und Lesben in Rio gehöre zu den weniger privilegierten Schichten. Außerdem habe die offene Diskriminierung von Homosexuellen zugenommen. Nicht unbedingt am Strand von Rio, aber außerhalb der Städte und an der Peripherie. "Ein schwarzer Transvestit, der in einer Favela wohnt, ist fast täglich Anfeindungen und Vorurteilen ausgesetzt", sagt Moreira, der bei der Organisation Arco Íris (Regenbogen) arbeitet.

Brasilien ist ein Land voller Widersprüche. Politische Polarisierung und Intoleranz gegen Andersdenkende sind in den vergangenen Monaten im ganzen Land gewachsen. Rassismus und Machismus sind in der nach außen so bunt wirkenden brasilianischen Gesellschaft tief verankert. Das spüren vor allem Lesben und Schwule.

Brasilien habe zwar die weltweit größte Gay-Parade, ein Antidiskriminierungsgesetz, das international als sehr fortschrittlich gilt, sagt der Anthropologe Luiz Mott, der sich seit mehr als 35 Jahren für LGBT-Rechte einsetzt. Doch es gibt auch eine sehr blutige Seite.

Im vergangenen Jahr wurden 318 Hassmorde an Lesben und Schwulen begangen. "Damit ist Brasilien Weltmeister bei Homophobie-Verbrechen", fügt Mott bitter hinzu. Brasilien sei für 44 Prozent der weltweit aus Hass gegen Schwule und Lesben verübten Morde verantwortlich. In den seltensten Fällen würden die Täter gefasst.

"Lieber Dieb als schwul"

Es seien nicht nur die Taxifahrer, die sich weigerten, ein homosexuelles Pärchen mitzunehmen, oder der Gastwirt, der ein sich küssendes lesbisches Paar rausschmeiße. "Viele Eltern sagen immer noch, sie bevorzugten einen Dieb als Sohn gegenüber einem Schwulen. Das sind die Antworten, die wir bekommen", sagt Mott. Die meisten Verbrechen gegen Homosexuelle wurden im Bundesstaat São Paulo begangen.

"Jeder von uns wurde schon einmal angegriffen oder beleidigt", sagt auch Claudio Teixeira. Als der Grafikdesigner mit seinem Freund Hand in Hand aus einem Kino in São Paulo kam, seien Bierflaschen nach ihnen geworfen worden. Zusammen mit Zehntausenden nahm er an der Gay-Pride-Parade Ende Mai in São Paulo teil.

Auch Avelino Fortuna ist dabei, extra aus dem 2700 Kilometer entfernten Recife im Nordosten Brasiliens angereist. Sein 28-jähriger Sohn Lucas wurde vor dreieinhalb Jahren erschlagen und dann ins Meer geworfen, ein "klares Verbrechen aus Homophobie", wie er sagt. "Ich setze seinen Kampf fort. Das ist das Einzige, was ich tun kann, um ihn zu ehren und ihm meine Liebe zu zeigen", betont der 61-Jährige.

Auf der Parade kämpften die Demonstranten auch für einen Gesetzentwurf gegen Homophobie, der seit 2011 in den Schubladen des Kongresses liegt. Hoffnung, dass er bald beschlossen wird, haben sie aber nicht. Im Mai wurde die linksgerichtete Präsidentin Dilma Rousseff für 180 Tage suspendiert.

Übergangspräsident Michel Temer von der rechtsliberalen PMDB ließ als eine seiner ersten Amtshandlungen das Ministerium für Frauen und Gleichbehandlung abschaffen. Sein Arbeitsminister kündigte bereits an, ein von Rousseff kurz vor ihrer Suspendierung unterzeichnetes Dekret aufzuheben. Darin wird Transidenten und Transvestiten zugestanden, ihren Namen zu ändern. "Das sind enorme Rückschritte", sagt auch Julio Moreira.

Im brasilianischen Kongress gehören die ultrakonservativen Evangelikalen inzwischen zur stärksten Gruppe. 2011 entschied der Oberste Gerichtshof des Landes, dass gleichgeschlechtlichen Paaren die gleichen Rechte wie verheirateten heterosexuellen Paaren zustehen.

Verschiedene Bundesstaaten wie São Paulo, Rio de Janeiro oder Paraná setzten das Urteil in Landesgesetze um. Die evangelikale Fraktion will jetzt die Homo-Ehe durch die Hintertür rückgängig machen: Sie hat bereits ein Gesetzesvorhaben eingebracht, in dem allein Mann und Frau als legale Familie anerkannt werden.

"Heilung" durch Prügel

Aufwind bekommen damit auch rechtsnationalistische Abgeordnete wie Jair Bolsonaro (Fortschrittspartei), der die Militärdiktatur verteidigt sowie die Todesstrafe und Folter bei Schwerverbrechern wiedereinführen will.

Seit Jahren schon hetzt er gegen Schwule und Lesben, die er mit einer "Tracht Prügel" von der Homosexualität "heilen" will. Bolsonaro ist nicht irgendein Abgeordneter, er wurde mit den meisten Stimmen von Rio de Janeiro in den Kongress gewählt.

Homosexualität entstehe durch "mehr bürgerliche Freiheiten, Drogenkonsum und Mütter, die arbeiten gehen", erklärte Bolsonaro in einem Interview mit der kanadischen Schauspielerin Ellen Page, die sich als lesbisch geoutet hat.

Kategorisch spricht er sich gegen die gleichgeschlechtliche Ehe und das Adoptionsrecht für Homosexuelle aus. "Wollen wir als Nächstes Pädophilie legalisieren?", fragte er in einer Kongressanhörung.

Inzwischen wird wieder einmal gegen Bolsonaro vor dem Obersten Gerichtshof verhandelt. Diesmal hatte der Abgeordnete der damaligen Gleichstellungsministerin Maria de Rosário an den Kopf geworfen, sie verdiene es nicht einmal, vergewaltigt zu werden. (Susann Kreutzmann, 26.6.2016)