Julia Wolf überzeugte als erste Leserin des zweiten Tages viele – auch durch ihren Vortrag.

Foto: ORF/Franziska Rieder

Klagenfurt – Viel Lob erntete gleich die erste Lesung des zweiten Bachmannpreis-Tages. In ihrem Romanauszug Walter Nowak bleibt liegen beschrieb die junge Deutsche Julia Wolf den Bewusstseinsstrom eines 70-Jährigen, der mit einer tödlichen Kopfverletzung auf seinem Badezimmerboden liegt und dabei auf seinen Tag im Schwimmbad und sein Liebes- sowie Familienleben zurückblickt.

"Sprachliche Finesse, großartig gearbeitet, Drive", bedachte Sandra Kegel das Spiel mit Leerstellen und mit Abbrüchen, das im Vortrag allerdings besser funktionierte als auf Papier, wie auch Hildegard Keller und Meike Feßmann befanden. Zudem erkannte Kegel Narziss-Motive und Juri Steiner eine "männliche Gefangenschaft" sowie eine "verschobene Midlifecrisis", in der mit der Körpermaschine auch die Sprache ins Stocken gerate.

Dass Kegel und STANDARD-Redakteur Stefan Gmünder sich über die Zeichnung des Mannes – "geiler Greis" oder nicht? – uneins waren, gereicht nicht zum Nachteil der von Hubert Winkels eingeladenen Autorin. Und Klaus Kastberger war ihr (gewissermaßen stellvertretend für alle seine Kollegen) dankbar – sah er mit diesem Text nach dem ersten, stilistisch hoch differenzierten Tag die Jury doch "sicheres Terrain zurückgewinnen, weil er eine klassische literarische Tradition bedient", die thematisch zudem "wohltuend frei" sei "von Flüchtlingen und Brexit" und sowohl vor 25 Jahren funktioniert hätte wie dies auch noch in 25 Jahren tun werde.

Jan Snelas Orientalismus

Weniger glücklich verlief das Antreten von Jan Snela. Wie schon am gestrigen Lesetag folgte auch mit ihm als Zweitstarter auf den ersten, souverän und schlank gehaltenen Text nun einer, der seine Mittel nur wenig präzise einzusetzen wusste. Kleine Reime innerhalb der Sätze, wenig vorteilhafte Worthäufungen und jede Menge arabischer Vokabel wirkten an sich selbst erfreut, aber leer.

"Einiges Unbehagen" empfand Winkels ob dieser "schwülstiger Häufung von Orientalismen". Gegen seinen Vorwurf, unabsichtlich aber doch sei dieser Text mit seinen misslungen zusammengerafften Klischees einer für die Pegida, verwahrte sich der Rest der Jury allerdings. Feßmann im Gegenteil sprach von einer "irrsinnig komischen Dekonstruierung von Klischees". Auch Gmünder hatte ihn als Parodie gelesen, fand ihn zwar nicht lustig, aber doch interessant.

Dass er jedes dritte Wort habe googlen müssen, weil der Autor sie schon hineingegooglet habe, ärgerte hingegen Kastberger: "Das ist Karl May des 21. Jahrhunderts – keine Ahnung vom Orient, nie dort gewesen, aber so tun, als hätte man die Weisheit mit dem Löffel gefressen". Dass Keller sich wie schon bei Sascha Macht auf den Text eingelassen hatte und einmal mehr ein – eher schwach argumentiertes – Plädoyer zur Mitarbeit des Lesers hielt, überzeugte ihn nicht. "Fantasie kann nicht über ästhetische Nichtqualitäten hinwegtäuschen", entgegnete Kastberger.

Isabelle Lehns Spielanordnung

Auch Isabelle Lehns Text spielte mit dem mittleren Osten: Binde zwei Vögel zusammen beschreibt den Rückblick eines Deutschen auf ein Statisten-Trainingscamp in Deutschland für einen Filmdreh über Afghanistan: ein Dorf unter Überwachung und im Kriegszustand, lukullische Freuden fungieren als Kompensation für die mehrwöchige Aufgabe des eigenen Lebens. Er wurde wohl vom Arbeitsamt dorthin vermittelt.

Eine "absurd gute Ausgangslage" befand Kegel und las den Beitrag weniger als einen über den Krieg denn über das Prekariat. Zu ihrem Bedauern löse der Text seinen Komödienstoff aber nicht ein, sondern werde zu altbekannter Befindlichkeitsprosa. Dem wurde allerdings weitgehend widersprochen. Kastberger fand ihn angemessen ernst und war "überzeugt", Juri Steiner gepackt" und Keller "sehr davon angesprochen". "Zu trocken, keine Spannung, keine Überraschung", äußerte sich Gmünder deutlich am negativsten.

Tomer Gardis gebrochenes Deutsch

Tomer Gardi, geboren in Galiläa und lebend in Tel Avaiv, führte die Jury dann mit seinem von einem gebrochenen Deutsch markierten Text über Fremdartigkeit, Migration, Identität und Muttersprache an den Rand ihrer Deutungssicherheit. Bezüge zu Gastarbeitersprache und Kanaksprak lagen da nicht nur für Keller ("Ich kann Bachmannpreis") auf der Hand.

Der Text zeige, dass "unsere Kategorien einfach nicht funktionieren", kommentierte Feßmann den Versuch, ihm nahe zu kommen: vor zehn Jahren hätte man noch korrekte Sprache als Grundvoraussetzung eingefordert, heute fetischisiere man die Authentizität des Mangels an einer solchen oft geradezu. "Man kann durchaus über Ästhetik im Zusammenhang mit diesem Text diskutieren", befand hingegen Gmünder. "Es muss kein gutes Deutsch sein", bestätigte ihn Kastberger, der Gardi nominiert hatte, und erinnerte an die Bachmannpreisregeln. Die Gebrochenheit sei für die Dichte dieses Textes zudem fundamental und überdies "Politik auf formaler Ebene" – nämlich als eine Frage nach sprachlicher Integration. "Eine kuratorische Meisterleistung" pflichtete Winkels diesem Ansatz bei, doch funktioniere sie nur einmal, sei nicht wiederholbar – wie Duchamps Pissoir als Fountain. Dafür erntete er Widerspruch.

Sylvie Schenks Zwiesprache

Sylvie Schenks im Kern autobiografischer Text Schnell, dein Leben über ein Mädchensein in der französischen Provinz in den 1950er-Jahren erzählte zum Abschluss des zweiten Lesetages von der größeren Freiheit der Buben, der autoritären Welt der Erwachsenen, der Freiheit in der Natur. Wenig sentimental war diese Zwiesprache mit einem "Du", in dem die Autorin die Frühzeit eines Lebens in kurzen Einzelszenen, Persönliches und große gesellschaftliche und politische Entwicklungen zusammenklammernd, Revue passieren ließ.

"Sehr beeindruckt" von der "Sanftheit des Blickes" und dargelegten poetischen Weltsicht war Gmünder und auch Kegel gefiel diese "Chronik einer Kindheit" metaphorisch und sprachlich. Im Detail funktionierend, war sie ihr aber im Gesamten zu wenig innovativ. Was Winkels nicht störte.

Feßmann hingegen konnte mit Schenks Text nichts anfangen – er sei "erklärend" wie "Schnipsel aus dem Geschichtsbuch". Auch für Kastberger war diese Biografie zwar "ereignisreich", aber zu wenig beschrieben und zu unspezifisch. (wurm, 1.7.2016)