Rossini – eigentlich vor allem ein musikalisches Ereignis.

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Erl – Die Welt ist voller rätselhafter Phänomene, denen man nur mit Staunen begegnen kann (Aufzählung unvollständig): Jeannine Schiller, der Siegeszug der Crocs, die Innenpolitik, David Alabas EM-Frisur und das Augen-Make-up der späten Hildegard Knef. Rätselhafter als all diese Dinge zusammen ist nur das Wirken Gustav Kuhns als Regisseur.

Der Gründervater der Tiroler Festspiele Erl ist eine Richard-Wagner-Figur der Jetztzeit. Anfänglich hat der Dirigent nur im Passionsspielhaus inszeniert. Das war völlig in Ordnung: Das Ende der 1950er erbaute Haus verfügt über keine nennenswerte Bühnentechnik, und Kuhns rudimentäre "Regie" (homöopathischer Einsatz von Requisiten plus Slow-Motion-Gänsemärsche des Chors) passte gut zum rohen Innenleben des großartigen Baus.

Dann kam Hans Peter Haselsteiner. Der Präsident und Mäzen der Tiroler Festspiele Erl, quasi Kuhns König Ludwig II., baute dem Gesamtkunstwerker ein futuristisches Festspielhaus in die grünen Hügel Erls, ein Festspielhaus, das technisch alles Stückln spielt. Rätselhaft ist nur, dass Kuhn hier nicht nur dirigiert, sondern auch beharrlich Regie führt. Das ist in etwa so, wie wenn man eine Formel-1-taugliche Rennstrecke baut und darauf nur Seifenkistenrennen veranstaltet.

Bei der Eröffnungspremiere der Sommersaison, Rossinis Guglielmo Tell, wusste man wieder nicht, wo man überall nicht hinschauen sollte. Da gab es zwölf etwa vier Meter hohe Figuren, unten Baumstamm, oben Mensch, die an übergroße kahlköpfige Balletttänzerinnen erinnerten (Bühnenbild: Alfredo Troisi). Der riesenhafte symbolistische Blickfang brachte auch dank der schlechten Beleuchtung (Licht: Kuhn) atmosphärisch nichts und wurde mal dahin, mal dorthin geschoben: die Festspielbühne als Requisitendepot.

Das Bewegungsdefizit des Chors sollte durch eine achtköpfige Gruppe von Tänzern kompensiert werden, die sich alle Mühe gaben, sich ekstatisch zu verrenken (Choreografie: Katharina Glas); Chor und Ballett trugen morastfarbene Textilien (Kostüme: Lenka Radecky). Das erste Zusammentreffen des Liebespaars Arnold und Mathilde im Wald fand vor einem geschlossenen Vorhang statt, mit weißen Würfeln als Sitzgelegenheit: Romantik pur.

Aber vielleicht inszeniert Kuhn nur deswegen selbst, weil man bei alldem fast gezwungen ist, die Augen niederzuschlagen und sich auf die musikalischen Dinge zu konzentrieren? Denn im Orchestergraben leistete er Großes. Mit dem Festspielorchester präsentierte er Rossinis Opernletztling mit Wucht und Delikatesse, mit harten Akzenten und inniger Kantabilität. Und auch bei der Sängerbesetzung bot Kuhn einige Glanzlichter: Allen voran fesselte Anna Princeva als Mathilde. Sie bewies sich in der Darstellung der Habsburger-Prinzessin als große Dramatikerin und Tragödin und transportierte mit ihrem prägnanten Sopran noble Autorität und Intensität. Stolz, entschlossen der Tell von Giulio Boschetti: ein vokaler Kraftlackel. Immer glänzend und geschmeidig sang Ferdinand von Bothmer den Arnold, wenn sich sein Tenor auch mit zunehmender Höhe deutlich verengte.

Auch Kleineres gut besetzt: Giovanni Battista Parodi als Gessler, Bianca Tognocchi als Gemmy. Solide Johannes Schmidt (Melchthal), Anna Lucia Nardi (Hedwig) und Adam Horvath (Walther Fürst). Schließlich war die Schweiz von allen habsburgischen Übeln befreit. Freunde der Regie-Bizarrerie müssen am 22. Juli nach Erl pilgern, da gibt es den Guglielmo Tell zum zweiten und letzten Mal zu sehen. (Stefan Ender, 10.7.2016)