Die Gastarbeiter "kamen oft jung, arbeiteten 40 Jahre hier und stellen fest: Eigentlich sind meine Kinder hier trotzdem Bürger zweiter Klasse, und ich bin immer noch der Ausländer", beobachtet die deutsche Schriftstellerin Jagoda Marinić, selbst Tochter kroatischer Einwanderer.

Foto: STANDARD/Corn

Marinićs jüngstes Buch zieht eine kritische, aber auch aufmunternde Bilanz der Integrationspolitik in Deutschland. Vieles ließe sich auf Österreich umlegen.

Foto: Verlag

STANDARD: Hat Angela Merkel die Deutschen mit ihrem "Wir schaffen das" überfordert?

Marinić: Sie hat sich keinen Gefallen damit getan, ein so leicht auszuhebelndes Mantra zu finden. Auf dieses "Wir schaffen das" kann man einfach wie ein Kind sagen: "Nee, schaffen wir nicht." Für die Größe der Aufgabe war das zu einfach gedacht.

STANDARD: Wie hätte sie es formulieren können?

Marinić: Ich denke oft darüber nach. Vielleicht hätte sie betonen sollen, mit welcher Haltung wir an das Problem herangehen können, es als europäische Haltung definieren, Verbündete suchen. Dieses "Wir schaffen das" ist ja schnell als rein deutsche Sache wahrgenommen worden. Und dann sagen die Deutschen: "Warum eigentlich nur noch wir?" Sie hätte auch den Kommunen ausreichend Mittel in die Hand geben müssen. Die lokalen Strukturen waren da, es fehlte an Geld.

STANDARD: Auch in Österreich gibt es viele ehrenamtliche Initiativen. Den Diskurs dominieren aber nicht diese Menschen, die Integrationsarbeit leisten, sondern die Flüchtlingsgegner. Warum?

Marinić: Ich weiß es nicht. Man sieht tatsächlich viele, die mithelfen, es zu schaffen, aber in der Politik sehen wir einen Backlash in die Achtzigerjahre. Vielleicht liegt es daran, dass der alte Feindbilderdiskurs so viel einfacher abgerufen werden kann. Er ist immer noch im Hinterkopf. Eine Partei, die diese Bilder abruft, kann in kürzester Zeit von null auf 15 Prozent kommen. Während der "Wir schaffen das"-Diskurs erst geschaffen werden muss und Wandel Widerstände auslöst.

STANDARD: Sie sprechen von der Alternative für Deutschland. Welche Rolle spielten die Medien bei ihrem Erfolg?

Marinić: Die mediale Überflutung, alle paar Minuten neue Nachrichten aus der ganzen Welt zu bekommen, während es früher morgens die Zeitung und abends die Fernsehnachrichten gab – das überfordert viele Menschen. Die AfD bringt mit Weltreduktionen Beruhigung herein. Es gibt einigen Menschen Hoffnung: Wenn die so reden, dann kann es vielleicht wieder so werden wie früher. Das ist eine unglaubliche Nostalgie nach einer Zeit, die idealisiert wird: Man tut so, als wäre früher alles Reihenhaus und Audi 80 gewesen. Aber es gab auch den Kalten Krieg und Tschernobyl.

STANDARD: Die rechten Ideologen vermitteln nicht nur Nostalgie, sondern auch Endzeitstimmung – "Deutschland schafft sich ab".

Marinić: Diese Endzeitstimmung würde ich sowohl den Rechten als auch den Linken ankreiden. Alle machen eine Stimmung, dass man denken könnte: Wenn ich morgen aus dem Haus gehe, geht irgendwas extrem schief. Dass die Mehrheit in Europa eigentlich ein recht langweiliges, ruhiges Leben führt, kann man sich fast nicht vorstellen, wenn man die Nachrichten liest. Politik und Medien sollten Ruhe reinbringen, filtern – so schlimm ist es nicht.

STANDARD: Aber wie verträgt sich das mit den vielzitierten "Ängsten, die man ernst nehmen muss"?

Marinić: Bei manchen sind es berechtigte Sorgen, aber bei vielen Bessersituierten geht es darum, dass sie Privilegien nicht teilen wollen. Diese Wohlsituierten wollen die fundamentalen Rechte wie das Asylrecht einfach abzwacken, um selbst nichts teilen zu müssen, und sie spielen mit den Ängsten derer, die wirklich Grund zur Sorge haben. Denn ich glaube schon, dass sich in den letzten zehn Jahren das Sicherheitsgefühl in Bezug auf die Frage, ob ich würdig alt werden kann, verändert hat: steigende Mieten, ungewisse ärztliche Versorgung. Wir waren ja gewohnt, dass der Standard steigt.

STANDARD: Also hat Pegida recht, wenn sie von Ängsten spricht?

Marinić: Pegida war von Anfang an eine islamophobe Bewegung. Wenn man derzeit Ängste wirklich ernst nimmt, muss man eine andere Politik machen als Pegida – eine, wo es nicht um Einwanderung geht, sondern um Verteilung.

STANDARD: Wenn die Nationalisten "Wir sind das Volk" schreien, ist das ein verzweifeltes Aufbäumen dagegen, dass unsere Gesellschaft unaufhaltsam vielfältiger wird?

Marinić: Wenn man liest, wie sich die rechte Internationale formiert, ist das mehr als ein Aufbäumen. Man täte ihnen einen Gefallen, würde man das verharmlosen. Andererseits spielt diese Debatte für viele Junge gar keine Rolle, weil sie mit dieser Vielfalt aufwachsen. Entscheidend wird sein, welche demokratischen Leitbilder diese Jungen vermittelt bekommen. Wenn die AfD eine Parteistiftung gründet, die Jugendarbeit macht, mache ich mir Sorgen. Dieses Problem sehen wir im Osten Deutschlands: Da war die Jugendarbeit nicht in Händen der demokratischsten Organisationen.

STANDARD: Wie nehmen Sie die Reaktion der langansässigen Migranten auf die Flüchtlinge wahr?

Marinić: Es gibt die, die sich erinnern, dass es damals viele auch nicht so toll fanden, als sie ins Land kamen – die reagieren eher empathisch. Andere machen einen Schnitt zu ihrer Vergangenheit, wollen das nicht wahrhaben, weil es sie an das eigene Problem erinnert. Denn was macht der Flüchtlingsdiskurs? Er beginnt beim Flüchtling und geht weiter zur zweiten Generation der Gastarbeiter: Man wird schnell in ein Paket der "anderen" gepackt, obwohl man selbst sagt: Hallo? Ich bin doch hier geboren! Dadurch entstehen Kämpfe, Migranten wollen nicht denselben Status wie Flüchtlinge haben und grenzen sich ab. Es ist interessant, dass die Debatte über Rechte der Gastarbeiter nie entlang der Rassismuslinie geführt wurde.

STANDARD: Woran liegt das?

Marinić: Viele in Deutschland glauben, man sei sich wegen der eigenen Geschichte des Problems so stark bewusst, dass Rassismus gar nicht auftreten kann. Im Gegenteil: Es ist ein ewiger blinder Fleck. Auch liberale Menschen haben viele Bilder im Kopf, die sehr rassistische Denkmuster reproduzieren. Es gibt eine starke Abwehr, sich das bewusstzumachen. Es heißt: "Da komm ich ja sofort in die Nazi-Ecke."

STANDARD: Wie erklärt man sich dann brennende Asylheime, wenn nicht durch Rassismus?

Marinić: Man beruhigt sich zu schnell mit extremistischen Ansätzen. Man sagt: Rechts und links außen gibt es Gewaltträger, aber Rassismus ist nichts, was in der Mitte der Gesellschaft ist. Dass die Mitte die Gewalt, die an den Rändern ausgeübt wird, mitfördert, machen sich zu wenige bewusst.

STANDARD: Sie beschreiben in Ihrem Buch die schwierigen Bedingungen, die viele Gastarbeiter hier vorfanden. Manche vermuteten, sie hätten es zu Hause unter solchen Bedingungen auch so weit gebracht. Was tun, wenn sich der Aufstiegstraum nicht erfüllt hat?

Marinić: Sie sind mit Träumen hergekommen. Die Verwirklichung dieser Träume hing aber auch davon ab, welchen Platz die Mehrheitsgesellschaft diesen Menschen zugestehen würde. Oft kamen sie jung, arbeiteten 40 Jahre hier und stellten fest: Eigentlich sind meine Kinder hier trotzdem Bürger zweiter Klasse, und ich bin immer noch der Ausländer. Es wäre wichtig, diesen Menschen zu signalisieren, dass ihre Entscheidung Sinn gemacht hat.

STANDARD: Wie geht das?

Marinić: Indem man anerkennt, dass sie das Land mitaufgebaut haben. Das ist nicht Teil des großen Narrativs.

STANDARD: Bergen diese Erfolgsgeschichten nicht auch das Risiko, Menschen auf ihren Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt zu reduzieren?

Marinić: Jein. Wir sind nun einmal tätige Menschen, Arbeit gehört zum Leben, und Anerkennung für Leistung ist wichtig. Aber natürlich darf man Menschen nicht darauf reduzieren. Der nächste Schritt wäre zu sagen: Ihr habt das Land nicht nur mitaufgebaut, sondern auch verändert. Ihr seid ein selbstverständlicher Teil Deutschlands, habt auch eine zweite Welt, ein zweites Land, das zu eurem Leben gehört und somit zu uns.

STANDARD: Sie erzählen in Ihrem Buch von einem erfolgreichen Akademiker in den USA, der im Büro ein Foto seines bäuerlichen Großvaters aufgehängt hat. Sie sagen, in Deutschland – ich impliziere: auch in Österreich – wäre das nicht möglich. Warum nicht?

Marinić: In Amerika gibt es den Mythos des Aufsteigens: Ich habe es geschafft, egal woher ich kam, bin stolz. Ich muss mich von meiner Herkunft nicht reinwaschen, sondern eigentlich ist es umso bemerkenswerter, dass ich mit weniger vorteilhaften Voraussetzungen genauso weit gekommen bin. Der Londoner Bürgermeister hat gesagt: "I'm the son of a Pakistani busdriver." Er hat sich auf die ethnischen Wurzeln und die soziale Klasse bezogen und vom Aufstieg erzählt. Solche Geschichten gäbe es in Deutschland auch.

STANDARD: Warum werden sie nicht erzählt?

Marinić: Provokant würde ich sagen, dass dahinter ein Rest antidemokratischen Denkens steckt. Hier glauben viele, wenn man es weit gebracht hat, muss dahinter eine ganze Familiengeschichte an Wohlstand und Bildung stecken. Sobald ein Migrant erfolgreich ist, schneidet man die Herkunft ab. "Trotzdem", heißt es dann. Das gilt auch für Arbeiterkinder, die nicht aus Einwandererfamilien kommen.

STANDARD: Im Hofburg-Wahlkampf wurde Alexander Van der Bellen kritisiert, weil er den Heimatbegriff benutzte, aber auch gelobt, weil er den Begriff nicht den Rechten überlässt. Wer hat recht?

Marinić: Ich bin da auch hin- und hergerissen. Man merkt, dass der Heimatbegriff bei manchen Menschen Vertrauen aufbaut, dieses Bedürfnis ist offenbar da. Andererseits sind viele, die einen komplexeren Heimatbegriff hätten, nicht wahlberechtigt. Immer zu sagen, man dürfe den Rechten dieses und jenes nicht überlassen, ist unkonstruktiv. Mit diesem Argument beginnt die Mitte zunehmend, rechte Standpunkte zu übernehmen. Sie machen die Politik derer, die sie verhindern wollten. Ich hätte gern junge Politiker, die eine Vision für Europa haben, nicht einen Abschottungskurs fahren oder den Kurs der alten Herren verinnerlicht haben. Europa muss sich erneuern, national und im Gemeinsamen.
(Maria Sterkl, 12.7.2016)