Auf Atatürks Kopf: Anhänger von Staatschef Tayyip Erdoğan erklimmen bei ihren nächtlichen Wachen auf dem Taksim-Platz in Istanbul auch das Denkmal der Republik.

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Ankara/Athen – Er ist das freundliche Gesicht der Regierung, der fromme Ökonom mit den weichen Zügen. Darum ist Numan Kurtulmuş nicht nur einer der stellvertretenden Premiers, sondern auch der Sprecher der türkischen Regierung. Doch nun hat Kurtulmuş harte, bis vor wenigen Tage noch unvorstellbare Dinge mitzuteilen. Die Türkei werde die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) aussetzen, sagte der Regierungssprecher am Donnerstag. Wenige Stunden zuvor ließ Staatschef Tayyip Erdoğan den Ausnahmezustand verhängen.

Frankreich habe das auch getan, so verteidigt Kurtulmuş die Entscheidung des Staatschefs. Er verweist auf den Artikel 15 der Konvention, der Abweichungen im "Notstand" zulässt, nicht aber vom Verbot der Folter und vom Prinzip "keine Strafe ohne Gesetz". In Frankreich gilt seit den Terroranschlägen vom November vergangenen Jahres der Ausnahmezustand. Der französische Staatschef verlängerte ihn nach dem Anschlag in Nizza nochmals um sechs Monate.

"Diese Garantie geben wir"

In der Türkei seien schon ein Dutzend Mal Ausnahmezustände verhängt worden, die sich gegen das Volk richteten, sagte Kurtulmuş; dieser aber sei für den Staat gemacht – das Alltagsleben der Bürger werde nicht beeinträchtigt: "Diese Garantie und dieses Versprechen geben wir."

Während Kurtulmuş in Ankara garantiert und verspricht, nimmt die Polizei den renommierten Bürgerrechtler Kemal Orhan Çengiz und dessen Frau Sibel am Flughafen in Istanbul fest. Das Ehepaar darf nicht ausreisen, es wird zum Verhör in das Polizeihauptquartier im Stadtteil Fatih gebracht. Nach dem gescheiterten Putsch vom vergangenen Freitag haben Staatschef und Regierung eine Glocke über das Land gestülpt. Zehntausende Beamte in Justiz und Polizei sind suspendiert, Hochschullehrer dürfen nicht ausreisen, TV- und Radiosender, denen eine Verbindung zur Bewegung des Predigers Fethullah Gülen nachgesagt wird – dem angeblichen Drahtzieher des Putsches –, haben ihre Lizenzen verloren. Die Zahl der festgenommenen Soldaten wurde am Donnerstag mit knapp 8.000 angegeben, am Freitag stieg sie auf mehr als 10.000.

Außenminister Mevlüt Cavusoglu erklärte am Freitag, Gülen könnte kurzfristig von den USA ausgeliefert werden. Wenn man dazu entschlossen sei, könne es sehr schnell gehen, "Wenn man es hingegen hinauszögern will, kann der Prozess Jahre dauern." Erdoğan selbst kündigte indes einen raschen Umbau des Militärs an. Ein erneuter Umsturzversuch würde Aufrührern nicht leicht fallen. "Wir sind wachsamer," sagte der Präsident.

Vonseiten der EU kam Kritik am Vorgehen Ankaras: Die Regierung habe in Reaktion auf den versuchten Umsturz "inakzeptable Entscheidungen" zur Kontrolle des Erziehungswesens, der Justiz und der Medien getroffen, kritisierten die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini und Erweiterungskommissar Johannes Hahn. Die EU verfolge die Entwicklung unter dem Ausnahmezustand in der Türkei "sehr genau und mit Sorge", hieß es in einer in der Nacht auf Freitag veröffentlichten Erklärung. "Wir fordern die türkischen Behörden auf, unter allen Umständen die Rechtsstaatlichkeit, die Menschenrechte und die grundlegenden Freiheiten einschließlich des Rechts auf ein gerechtes Gerichtsverfahren zu respektieren."

Rechtsnationalisten unterstützen Ausnahmezustand

In Ankara trat indes das Parlament zusammen, um über den Ausnahmezustand zu debattieren. Justizminister Bekir Bozdag verteidigte den Schritt; die festgelegte Zeit von drei Monaten wolle man nicht ausschöpfen, versichert er. Die Rechtsnationalisten der MHP unterstützen den Ausnahmezustand, die prokurdische HDP und die Sozialdemokraten lehnen ihn ab. "Wir stehen auf der Seite der Demokratie", sagt Kemal Kiliçdaroglu, der Chef der CHP. Staatspräsident Erdoğan kann fortan mit Dekreten regieren, am Parlament vorbei.

Die Opposition verlangt auch Aufklärung über die Rolle des Geheimdienstes am Putschtag. Ein Loch klafft, vier Stunden am Freitag, zwischen 16 und 20 Uhr: Geheimdienstchef Hakan Fidan informierte den Generalstab der Armee um 16 Uhr über Anzeichen eines Putschs; doch erst gegen 20 Uhr spricht er mit Erdoğan, der Urlaub am Mittelmeer macht. Er habe als Erstes von seinem Schwager vom Putsch erfahren, sagte Erdoğan dem TV-Sender Al-Jazeera. Ziya Ilgen ist Geschäftsmann und pensionierter Lehrer. Fassungslos reagierte Ankara auf das Urteil eines griechischen Gerichts über die geflüchteten acht türkischen Soldaten: zwei Monate Haft auf Bewährung. Das Asylverfahren geht weiter. (Markus Bernath, 21.7.2016)