Berlinde De Bruyckere und Romeu Runa (im Bild) kreierten "Sibylle".


Foto: Karolina Miernik

Wien – Die Verbindung zwischen Choreografie und bildender Kunst funktioniert nicht immer. Aber zwischen den Arbeiten der Künstlerin Berlinde De Bruyckere und dem Tanz des Portugiesen Romeu Runa hat es im Leopold-Museum offensichtlich gefunkt. Dort ist die Ausstellung Suture ("Naht") der Belgierin noch zu sehen. Und dort hat Runa bei Impulstanz auch eine symbiotische Kooperation zwischen den beiden Künstlern gezeigt: die Performance Sibylle.

Als Grundlage diente der Mythos der Seherin Sibylle: Apollon habe sich in die junge Schöne verschaut und ihr – im Gegenzug für Sex – die Erfüllung eines Wunsches versprochen. Sibylle nimmt eine Handvoll Staub und wünscht, so viele Jahre leben zu können, wie Sandkörner darin enthalten seien. Der Gott erfüllt ihr das. Sie verweigert sich ihm aber und erkennt: "Ich vergaß zu erbitten, es möchten Jugendjahre sein." So überlässt der Gott sie dem Altern. Ein Jahrtausend lang.

Der Bezug zu De Bruyckeres Skulpturen ist klar. Aus diesen Körperdarstellungen – die in quasi antipodischem Verhältnis zu den ebenfalls wächsernen Anatomiepräparaten im Josephinum stehen – sprechen Schmerz, Verfall und Enttäuschung des Lebenswillens. Und das mit deutlich christlichem Leidensgestus.

Hiroshi Ito wiederum hält "leben" für überbewertet. "Wir werden geboren, um dem Tod entgegenzugehen", sagt der japanische Bildhauer im Stück I dance because I don't trust words, in dem sich seine Tochter Kaori – mit dem 86-Jährigen auf der Bühne – an ihrer Vater-Kind-Beziehung abarbeitet. Itos ironische Gelassenheit gegenüber dem Tod drückt sich auch in seinem bildhauerischen Werk aus. Sie steht dem typisch europäischen Aufbegehren gegen das Sterben entgegen.

In die Vergeblichkeit dieses Aufbegehrens wühlt sich der Tänzer Romeu Runa in Sibylle mit maximalem körperlichem Aufwand. Erst ruht sein Körper in einem Salzkrater, um sich dann in einem schmerzlich anzusehenden Akt innerer Bewegung dem Konflikt auszuliefern. Die versehrten Gliedmaßen, die leichenhaften Häute von De Bruyckeres Gestalten scheinen in ihn eingedrungen zu sein, sich durch seine Eingeweide zu graben und ihn wie eine Marionette zu lenken.

Was Runa zeigt, ist vielleicht noch mit Karol Tyminskis Solo Beep zu vergleichen. Auch der junge polnische Choreograf zeigte den Missbrauch am Menschen von heute durch immer penetrantere Verlockungen (bis hin zu individueller Unsterblichkeit). De Bruyckeres Körper machen die Verformungen der psychischen Anatomie (auch) als Konsequenz solch leerer Versprechungen sichtbar. Zusammen mit Runa gibt sie dem eine lebendige Form. (Helmut Ploebst, 24.7.2016)