Die Tänzer der Compagnie Sankai Juku aus Japan unternehmen einen faszinierenden Ausflug in versunkene Erdzeitalter, um der Spezies des Seeigels zu gedenken.

Foto: Sankai Juku

Wien – Das Gedächtnis unseres Planeten ist großteils in Schichten (lateinisch "strata") gelagert. Die Einführung der Stratografie, in der unter anderem die Zeitzusammenhänge dieses Erdarchivs erforscht werden, in die Choreografie ist eine Leistung der Butô-Compagnie Sankai Juku und ihres Leiters Ushio Amagatsu (67). Diese bereits 1975 von Amagatsu gegründete japanische Gruppe zeigte am Wochenende bei Impulstanz im Wiener Volkstheater ihr neuestes Stück Meguri, in dem versteinerten Seelilien eine wichtige Funktion zukommt.

Das ist kein ästhetischer Luxus, sondern weist sehr klar auf eines der größten Probleme der Gegenwart hin: das angeschlagene Verhältnis des permanent vernetzten Subjekts zur Echtzeit. Also einerseits zu Zeitressourcen, die immer irgendwie fehlen. Dann zu Zeitreserven, auf die man kaum zugreifen kann, weil einem die Freizeit so oft totgeschlagen wird. Und damit zur Zeitspanne, in der gelebt wird – und von der einer oder einem noch wer weiß wie wenig bleibt. Sehr bedenklich. Auf dieses große Thema, das in Medien und Literatur immer wieder Wellen schlägt, greift Amagatsu auf sehr spezielle Art zu. Anzunehmen, dass er weder Rüdiger Safranskis schönes Buch Zeit noch den provokanten Sammelband gelesen hat, den der junge Philosoph Marcus Quendt gerade bei Merve herausgegeben hat. In Letzterem heißt es sinngemäß: Wir stecken in einer "absoluten Gegenwart" fest, die noch dazu im Verschwinden ist.

Die verkürzte Zeit

Der Ende der 1950er-Jahre von Tatsumi Hijikata begründete japanische Butô-Tanz, wie ihn Ushio Amagatsu versteht, ist ein sehr körperliches Ausloten von Dehnung und Verkürzung der subjektiven Zeiterfahrung.

In Meguri wird das noch einmal verstärkt. Hier tritt anfangs Amagatsu selbst als Solotänzer auf – ein haarloser, weiß geschminkter Körper in langem Rock, der sich im Licht eines einzelnen Scheinwerfers dem Gedächtnis des Planeten wie ein Golem aus Kalk annähert.

Hinter ihm formen vier ebenso aussehende junge Tänzer mit ihren Körpern eine Seelilie, wie sie im Abschnitt Ordovizium des Erdaltertums (Paläozoikum) vor rund 450 Millionen Jahren im Meer lebten. Seelinien, fachsprachlich Crinoidea genannt, sehen aus wie Pflanzen, sind aber mit dem Seeigel verwandte Tiere.

Wenn nun Amagatsu die gesamte Rückwand der Bühne für sein Meguri mit fossilen Abdrücken von Crinoidea füllt, davor eine Seelilie aus Körpern setzt und sich selbst vorne an der Bühnenrampe auf eine schlichte Wasserschale zubewegt, öffnet er symbolisch das Erdarchiv. Und fordert damit bereits zu Beginn des Stücks die zeitraubende Verabsolutierung der Gegenwart heraus. Deutlicher geht's nicht, denn wir leben in einem zeitblinden sogenannten "Anthropozän", das diesen Planeten als menschlichen Lebensraum gerade zerstört.

Den Eindruck einer esoterischen Verehrung des Archaischen stört Ushio Amagatsu durch überwiegend elektronisch erzeugte Klangräume von Takahashi Kako, Yas-Kaz und Yoichiro Yoshikawa, die stellenweise regelrechte Science-Fiction-Flashes bewirken.

So wirken die insgesamt acht – ausschließlich männlichen – Tänzer wie in eine imaginierte Zukunft oder in ein Paralleluniversum versetzt. Exakt die Hälfte der Gruppe, neben Amagatsu sind das Sho Takeuchi, Toru Iwashita und Semimaru, gehört sozusagen zum "Urgestein" von Sankai Juku.

Die Alten treten als queer im doppelten Sinn auf. Einmal, indem sie durch ihre Erscheinungen eine Art drittes Geschlecht zwischen oder jenseits von männlich und weiblich zeigen. Und zum anderen, weil ihr grenzgenialer Tanz das Regiment der Zwangsjugendlichkeit im Gegenwartstanz aufbricht.

Wie in der Stratografie die in Stein gespeicherten Voraussetzungen für das heutige Leben abgelesen werden und so einen weiten Diskurs über Zeit öffnen, relativiert dieses Stück die Plattheit der absoluten Gegenwart in einem zyklischen Aufbau. Dieser Kreis legt ein Queering des Denkens in ordentlichen Schichten mit anderen Denkmethoden nahe – was eigentlich ein postmoderner Ansatz ist.

Wie auf dem Silbertablett

Durch die Schönheit der Oberflächen von Meguri (von japanisch "meguru": um etwas herumgehen) wird der aktuelle Inhalt, der sich durch mehrere brisante Themen zieht, wie auf dem Silbertablett serviert. Das ist keine Täuschung. Sondern eine Herausforderung an die Lektüre dieser großartigen Arbeit. Sankai Juku kann heute ganz anders gelesen und verstanden werden als das 2002 in den Stücken Kagemi und Unetsu der Fall war, den bis dato letzten Gastauftritten von Amagatsu und den Seinen bei Impulstanz.

Butô, der "Tanz der Finsternis", passt wieder in den Tanz. Die beiden einflussreichen französischen Choreografen Boris Charmatz und Xavier Le Roy haben das bereits 2009 nachgewiesen. (Helmut Ploebst, 31.7.2016)