Das Salz klumpt schon, das Brot hält sich noch. Wladimir Fjodrowitsch Iljin und seine Frau Gela stehen unverdrossen im Regen und begrüßen ihre Gäste, ganz traditionell, mit Brot und Salz. Jeder soll vom Laib abreißen und den Ranken in Salz tunken – für Freundschaft und gegen böse Geister. Nicht einmal der Zar hätte es gewagt, Brot und Salz abzulehnen, sagt man.

In seiner Kosakentracht scheint das Pensionistenpaar wie eine Projektion aus alten Zeiten. Während den Besuchern das Wasser über den Kapuzenrand rinnt, stehen die beiden Sibirier wie imprägniert im Wolkenbruch. Möglicherweise macht man sich in Sibirien generell nicht so viel aus dem Wetter? Immerhin hat es im August Plusgrade.

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Tanzen wie die Kosaken, heiraten nach altem russischen Ritus und die eigenen Wurzeln finden – das wollen immer mehr Russen in einer Siedlung bei Tomsk in Westsibirien.
Foto: Picturedesk / Tass / Danila Shostak

Hinter dieser Szene geht es hinein in eine Palisadenfestung mit Ziehbrunnen und Kapelle. Man könnte die Siedlung 20 Kilometer außerhalb der 500.000-Einwohner-Stadt Tomsk im südlichen Westsibirien als Freilichtmuseum bezeichnen, aber es ist in erster Linie Wladimirs und Gelas Zuhause, das der ehemalige Polizist eigeninitiativ aus dem Holz der Taiga errichtet hat. Voller Liebe zu den slawischen Wurzeln und der Kultur der Kosaken, die solche gesicherten Gemeinden einst gegen Angriffe der Nomaden bauten. Die beiden leben tatsächlich hier, sommers wie winters, mit Kind und Enkeln.

Birken bringen keine Besucher

Im Nachhinein weiß Wladimir die staatlichen Stellen auf seiner Seite, man zahlt ihm ein Gehalt. Schließlich tut es auch dem Tourismus gut, sich auf Traditionen zu besinnen. Unendliche Weite und unzählige Birken allein können Besucher nicht hinter den Ural locken. 2000 bis 2500 Menschen kommen bereits jährlich in Wladimirs Festung. Besonders beliebt ist es, hier nach altem russischem Ritus zu heiraten.

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Die Palisadenfestung außerhalb von Tomsk nutzen russische Paare gerne für Hochzeiten nach altem Ritus.
Foto: picturedesk / Tass / Danila Shostak

Den Eingang zur hölzernen Kapelle flankieren zwei Kosaken mit schwarzen Hosen, rotem Umhang und Schwertern. Jener links des Portals ist Iwan, 25 Jahre alt. Stolz und stoisch stiert er in den Regen. Warum er das macht? Er ist ein Fan der alten Kultur, sagt er, was gäbe es da noch zu erklären? Später wird er das 20-Kilo-Kettenhemd ablegen und zurück nach Tomsk fahren, in sein normales Leben als Geschichtslehrer.

Die Leute hätten ein steigendes Interesse an den Traditionen, bestätigt eine junge Frau mit Rock und Kopftuch, die normalerweise im Museum für slawische Kultur arbeitet. Jetzt steht sie hier am Tischende in einer niedrigen Hütte mit gemütlichem Holzofen und zeigt den Besuchern, wie sie aus Wollfäden und zwei Holzspießen Talismane gegen den bösen Blick weben. Was sie dazu erklärt, wissen eigentlich nur noch die Großmütterchen. "Die eigenen Wurzeln finden", sagt sie. "Wir denken nicht, dass das veraltet ist."

Akkordeon aus aktuellem Anlass

Ein 14-Jähriger, ganz neuzeitlich im Kapuzenshirt, sitzt auf dem, was einmal die Beine einer mannshohen Bärenskulptur werden sollen, treibt dem Holzblock mit Stemmeisen und Gummihammer Konturen in den Leib. Die Älteren stimmen zum Akkordeon Volksweisen an – aus aktuellem Anlass auch eine, die aus der Ukraine hierherkam. "Wir fühlen mit unseren Brüdern und Schwestern", schicken sie vorweg. Die dortige Misere mag mehr als 3000 Kilometer Luftlinie entfernt sein, doch sie ist überall präsent. Seit mehr als zwanzig Jahren sammelt die Gruppe Lieder und Tänze, bevor sie vergessen werden. Auch Gastfreundschaft und Lebenslust finden darin ihren festen Platz. Wladimir sagt: "Wollt ihr nicht über Nacht bleiben? Wir graben ein paar Erdäpfel aus und kochen gemeinsam. Einfach, aber gut. Das haben wir oft so gemacht."

Was er hier zeigt, ist für ihn kein Schauspiel und auch keine Folklore. "Das ist nichts, das man abnimmt und aufsetzt wie eine Perücke", sagt er fast empört, als man nach dem Menschen unter der Tracht fragt. Man kann ihn sich gut vorstellen, wie er im roten Gehrock mit einem Becher Kwas aus altem Zwieback im Sessel sitzt und dabei mit den Fingern einen volkstümlichen Ohrwurm auf die Armlehnen trommelt.

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Die Tracht ist nichts, das man aufsetzt und abnimmt wie eine Perücke, meinen die Leute, die im Freiluftmuseum gewordenen Dorf bei Tomsk leben.
Foto: Picturedesk / Ruslan Shamukov

Überall wird für Besucher gesungen und getanzt, mit ihnen gegessen und getrunken – und gebastelt. Sei es im Museum, im Park, auf dem Gutshof. Spielerisch ist das Zauberwort. Die verschüttete Kultur und alte Traditionen, die den Russen seit dem Ende der Sowjetzeit wieder so das Herz rühren, sollen erfahren werden, nicht begafft. Dass die Grenze zur Folklore fließend ist, stört kaum.

Seelenspiegel der Betrachter

Fast 800 Kilometer weiter südlich, im Dorf Tscheposch am Fuß des Altaigebirges, warten Frauen in bunten Kleidern, winken hinein in ein pittoreskes Haus mit unzähligen slawischen Püppchen an den Wänden. Die sind nicht etwa Deko. Sie hüten, helfen, unterstützen und sagen vorher – jedes hat eine Aufgabe.

Manche haben keine Gesichter, denn so können sie die Seelen der Betrachter spiegeln, statt sie zu stehlen. Olga, Swetlana und Tamara erzählen über die Charaktere der Puppen, die Sorgen thematisieren, Alltagsweisheiten parat haben, Allgemeinmenschliches nachfühlen. Ein Universum an Aberglauben für den Hausgebrauch wird ausgebreitet, das Geheimnis der Stoffpuppen enthüllt.

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Hinter sibirischen Püppchen verbirgt sich ein Kosmos an Aberglauben.
Foto: Anja Martin

"Die russischen Gäste wollen sich hier an ihre Traditionen erinnern", meint die 63-jährige Swetlana Gawrilowna Schilowa, die mit ihrer Familie vor zwölf Jahren das Puppenhaus initiierte, und sagt über die Reaktionen der Besucher: "Oft brechen sie gerührt in Tränen aus." Selbst die Kinder würden die Seelenverwandtschaft spüren und schätzen. Swetlana zitiert die Klage eines Mädchens: "Meine Barbie lächelt mich immer nur an, egal wie es mir geht, auch wenn ich weine."

99 Prozent russische Gäste

Damit die traditionelle Püppchenwelt nicht in Vergessenheit gerät, gehen die Frauen durch die Dörfer und sprechen mit alten Mütterchen, sammeln ihr Wissen, das teils ins Angebot des Puppenhauses eingeht, aber auch, in Aufsätze gepackt, als volkskundliche Dokumentation archiviert wird. Nach vielen Geschichten schlingt und knüpft noch jeder Besucher einen Fingerhasen, den er als wohlgesinnten Begleiter mit nach Hause nehmen darf. Ins Ausland reisen die Talismane nur selten, denn die überwiegende Mehrheit der Touristen in Sibirien sind Russen. In den Altai etwa kommen sogar zu 99 Prozent inländische Urlauber.

Diese Sehnsucht nach dem Gestern, nach der farbenfrohen Volkskultur, nach Talismanen und Aberglauben, aber auch nach Ikonen und orthodoxen Kapellen, nach den Holzhäusern der Dörfer, dem Wissen der Babuschkas, dem Leben mit Tieren steht dem Akademischen und Urbanen, dem bröckelnden Grau der Sowjetstädte mit den breiten Boulevards und riesigen Statuen entgegen. Städte, in denen keine Hunde, keine Skateboards und keine Fahrräder unterwegs sind, in denen sich Menschen nicht die Tür aufhalten und wo nicht grundlos gelächelt wird.

Urlaub auf dem Bauernhof

Ist es da ein Wunder, dass jetzt sogar in Russland die Landlust propagiert wird? Und das bezieht sich nicht auf die typischen Tage auf der Datscha, die noch immer fast jede sibirische Familie besitzt. Denn hier warten ja nur der eigene Alltag und die Erdäpfel im Boden. Es geht um Urlaub auf dem Bauernhof, ein Wochenende in einer Jagdhütte, einen Ausflug zum Angelsee.

Erst langsam entsteht die dazugehörige Infrastruktur, werden Dörfler zu Kleinunternehmern, die Gästehäuser vermieten. Man will ländliche Regionen entwickeln, für Einkünfte sorgen. Ein Beispiel ist der Verwaltungsbezirk Tomsk, der sich seit einem Jahr in diese Richtung bewegt, inzwischen auf rund siebzig ländliche Unterkünfte verweisen kann, von der Farm bis zur Lodge. Noch ist das spärlich für eine Region, die so groß ist wie Polen. Allerdings ist es nicht ganz fair, die Fläche heranzuziehen. In Sibirien ist Größe kein Argument, sondern eine Tatsache. (Anja Martin, RONDO, 5.8.2016)