Wien – Wie eine Oase nahmen sich die Stax-Studios in den 60er-Jahren in Memphis, Tennessee, aus. Während vor der Studiotür Rassenunruhen allgegenwärtig waren, kreierten in dem zu einem Tonstudio umgebauten Kino in der McLemore Avenue im Süden der Stadt schwarze und weiße Musiker Seite an Seite Soul-Klassiker wie "Knock on Wood", "Midnight Hour" oder "(Sittin’ On) the Dock of The Bay". Otis Redding, Wilson Pickett, Isaac Hayes und Sam & Dave sind nur die schillerndsten Namen einer langen Liste von Musikern, die bis in die 70er-Jahre hin ein den Stax-Sound als rauen Gegenpol zum glatteren Motown-Soul etablierten.

Aus der ursprünglich erwogenen Karriere als Arzt ist nichts geworden, als Meister im Balladenfach hat der 77-jährige Soul-Sänger und Songwriter William Bell dennoch zweifellos viel Leid gelindert.
Foto: Universal/Ginette Callaway

Einer der Ersten, die dem Label einen Hit bescherten, war William Bell. Unschlüssig, ob er Arzt oder doch Sänger werden soll, gastierte der Fan von Nat King Cole und Sam Cooke 1960 mit dem Phineas Newborn’s Orchestra in New York. Als das Gastspiel von sechs Wochen auf drei Monate verlängert wurde, schrieb der heimwehkranke 21-Jährige den Song "You Don’t Miss Your Water".

Glosende Sehnsucht

Eine nach der Rückkehr nach Memphis aufgenommene Demoversion des Songs überzeugte derart, dass sie unverändert auf Single gepresst und zu einem Verkaufserfolg wurde. Label-Kollege Otis Redding sollte den Song später ebenso covern wie The Byrds. Die glosende Sehnsucht, die sich in "You Don’t Miss Your Water" Bahn bricht, zeichnet William Bell als Songwriter und Performer bis heute aus.

Nicht Uptempo-Songs, sondern Balladen sind seine Stärke. Davon zeugen einst gemeinsam mit Booker T. Jones, dem Organisten der legendären Stax-Hausband, verfasste Klassiker wie "Everybody Loves a Winner" oder die Redding-Hommage "A Tribute to a King" ebenso wie seine jüngsten Songs für das aktuelle Album "This Is Where I Live", das nach mehr als 40 Jahren eine Rückkehr zum wiederbelebten Stax-Label markiert.

"Behind The Scenes" zu Bells Comeback-Album "This Is Where I Live".
Stax Records

Country und Soul

Den Löwenanteil der neuen Songs hat Bell erneut mit einem Partner geschrieben, in diesem Fall mit seinem Produzenten John Leventhal. Dass Leventhal als Singer-Songwriter und Ehemann von Rosanne Cash Country-Wurzeln hat, passt besser ins Bild, als es zunächst den Anschein haben mag. Schon "You Don’t Miss Your Water" war ja im Grund eine in Gospel-Feeling gebadete Country-Ballade. Der Leventhal-Cash-Song "Walking On A Tightrope" steht Bell denn wie ein Maßanzug.

"The Three of Me", der Opener von "This Is Where I Live".
William Bell

Was das musikalische Gewand betrifft, beweist Multiinstrumentalist Leventhal schon mit den von seiner Gitarre perlenden Licks des Openers "The Three of Me" Expertise und Geschmackssicherheit. Ohne falsche Retrosentimentalität werden die zeitlosen Qualitäten des Stax-Sounds in eine zeitgenössische Roots-Produktion übersetzt.

Bell nimmt sich auch noch einmal jenen Song vor, mit dem er einst Blues-Großmeister Albert King einen Schlüsselsong verschafft hat: Befreit von Bläsersatz und dem markanten Gitarrenriff, funkelt "Born Under a Bad Sign" dunkel und unheimlich.

William Bell über die Neueinspielung seines Klassikers "Born Under a Bad Sign".
William Bell

Die Geschichte, die in Bells nach wie vor geschmeidiger Stimme mitschwingt, verleiht auch den neuen Songs ihren Nachdruck. Schließlich hat man es mit einem Musiker zu tun, der 77 Lenze zählt und ziemlich viel gesehen, verloren und gewonnen hat, in Memphis und anderswo. Jahre nach dem Zusammenbruch des Stax-Labels gründete Bell eine eigene Plattenfirma, späteren Alben fehlte es dennoch meist an einer empathischen Produktion, wie sie "This Is Where I Live" auszeichnet. Beim oft als "schwarzes Woodstock" bezeichneten Wattstax-Festival war Bell 1972 ebenso dabei wie bei einer Memphis-Soul-Revue im Weißen Haus vor zwei Jahren.

2014 im Weißen Haus. An der Orgel: Bells einstiger Songwriting-Partner Booker T. Jones.
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Die verbliebenen Sehnsüchte bündelt Bell leichtfüßig, aber darum nicht weniger berührend in dem an Curtis Mayfields "People Get Ready" erinnernden Schlusssong "People Want To Go Home". Bell nimmt seine Hörer noch einmal mit an jenen Ort, an dem sich Soul, Folk, Country und Blues aufs Schönste die Hand reichen. Ein Druck auf die Play-Taste genügt: "When you're tired from that heavy load just get on that train and hit on home." (Karl Gedlicka, 9.8.2016)