Fantasievoll im Volkstheater: die belgische Needcompany.


Foto: Els De Nil Rhok

Wien – Auf der Rückseite des Mondes befindet sich ein Krater, der nach dem andalusischen Universalgelehrten Abbas Ibn Firnas (810-887) benannt ist. Erwähnt wird der Astronom und Dichter auch in The blind poet von Jan Lauwers und seiner Needcompany, das am Wochenende im Volkstheater als letzte große Impulstanz-Produktion zu sehen war.

Ibn Firnas hat mit einer Konstruktion aus Geierfedern einen erfolgreichen Gleitflugversuch unternommen – sechshundert Jahre vor Leonardo da Vincis Versuchen mit einem Fluggerät. Das erzählt der tunesische Tänzer Mohamed Toukabri stolz bei The blind poet, dessen Titel auf einen anderen arabischen Dichter anspielt: Abu l-'Ala' al-Ma'arri (973-1057) aus der syrischen Stadt Ma'arrat al-Numan, die durch ein Massaker bekannt wurde, das Kreuzzügler dort im Dezember 1098 angerichtet hatten.

Toukabri zeigt auch das Foto einer Büste des blinden al-Ma'arri, die in der Stadt stand und im Februar 2013 von Jihadisten "geköpft" wurde. Auf das Kreuzzugsmassaker weist im Stück indes jemand anderer hin: Maarten Seghers, dessen Vorfahren unter den Kreuzzüglern waren, namentlich unter jenen Flamen, die in Ma'arrat Kannibalismus trieben.

Bei The blind poet steht der unselige Begriff der Identität zur Disposition. Sieben Mitglieder geben Geschichten aus ihren Leben und von ihren Vorfahren zum Besten. Die Texte hat Jan Lauwers geschrieben, dessen Ehefrau und Mitgründerin der Needcompany, Grace Ellen Barkey, den Anfang macht: geboren im indonesischen Surabaya, Tochter einer Chinesin aus der Volksgruppe der Hakka (dt. "Gäste") und ebenso, wie sie sagt, Nachfahrin des Bremer Bürgermeisters Kaspar Barkey (1619-1690). Eine schillernde Familiengeschichte, deren "multikulturelles Wunder" die Künstlerin dem Kolonialismus verdankt.

Mohamed Toukabri dagegen scherzt über sich: "Ich bin reinste Monokultur. Durch meine Adern fließt reines Blut. Durch die muslimischen Adern von Mohamed Toukabri." Reinste Ambivalenz also, die hier mit Ironie dargebracht wird. Der kolonialistischen "Multikulturalität" steht ein religiöser Reinheits- und "Blut"-Begriff gegenüber. Da geht noch etwas: Hans Petter Dahl erzählt von seinen Wikinger-Vorfahren und – ohne die entsprechende Quelle, die Edda des Isländers Snorri Sturluson (1179-1241), zu nennen – deren behaupteter Abstammung von den Trojanern.

Dahl steht in einem Anzug auf der Bühne, aus dem Kunsteis-Theaterrauch quillt: wie Nebel der Geschichte, in denen Fakten, Fiktionen und Fälschungen zu dem führen, woraus sich immer schon Völker und Individuen, Religionen und Nationen ihre Identitäten konstruierten. Abu l-'Ala al-Ma'arri schrieb, die Menschen seien in zwei Gruppen gespalten: "Die einen haben Vernunft, aber keine Religion, und die anderen haben Religion, aber keine Vernunft." Eindrucksvoll und mit fantasievollen Mitteln appelliert die Needcompany an die Vernunft. Ohne moralisierende Arroganz und ohne "preaching to the converted". Großer Applaus. (Helmut Ploebst, 15.8.2016)